Chaos in Erding: Wie eine fatale Pannenserie dazu führte, dass die deutsche Polizei auf die Bundeswehr schoss

Chaos in Erding: Wie eine fatale Pannenserie dazu führte, dass die deutsche Polizei auf die Bundeswehr schoss

Es sind Szenen, die man sonst nur aus Actionfilmen kennt, Drehbücher, die man als übertrieben abtun würde. Doch was sich am Mittwoch im bayerischen Erding abspielte, ist bittere und hochdramatische Realität. Es ist die Geschichte eines unfassbaren Zusammenbruchs der Kommunikation, einer fatalen Verwechslung, die beinahe tödlich geendet hätte. Es ist der Tag, an dem die deutsche Polizei das Feuer auf deutsche Soldaten eröffnete. Ein Bundeswehrsoldat liegt nach einem Kopfschuss im Krankenhaus. Die Nation steht fassungslos vor den Trümmern einer Übung, die das Zusammenspiel von Militär und zivilen Kräften trainieren sollte und stattdessen das komplette Gegenteil bewies: ein kolossales Versagen auf ganzer Linie.

Um das Unbegreifliche zu verstehen, muss man die Ereignisse von Anfang an aufrollen. Es war keine spontane Aktion, sondern eine von langer Hand geplante Großübung. “Operation Marshall Power 2025”, so der Name des Manövers, wurde als eine der größten und komplexesten Übungen der letzten Jahre in Bayern angekündigt. Rund 500 Soldaten, primär Feldjäger der Bundeswehr, sowie etwa 300 zivile Einsatzkräfte – darunter Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungsdienste – sollten den Ernstfall proben. Das Ziel: das Zusammenwirken im Verteidigungsfall zu trainieren. Ein wichtiges und in der Theorie sinnvolles Vorhaben in politisch angespannten Zeiten.

Doch die Theorie zerschellte an der Realität eines Mittwochnachmittags im Erdinger Stadtteil Alten-Erding. Die Megapanne nahm ihren Lauf durch einen ebenso verständlichen wie folgenschweren Notruf. Anwohner wählten die 110. Sie meldeten, was jeder gesetzestreue Bürger melden würde: “Vermummte Personen mit Gewehren”, die “um Scheunen schleichen”. In einem Land, das nach Aussage vieler von einer latenten Angst vor Kriminalität und Terror geprägt ist, sorgte diese Meldung für sofortigen Großalarm bei der örtlichen Landespolizei.

Und hier beginnt das erste Kapitel des Desasters. Während Hunderte von Einsatzkräften theoretisch an einer gemeinsamen Übung beteiligt waren, wussten die Beamten der zuständigen Inspektion in Erding offenbar nichts von diesem spezifischen Übungsszenario. Sie gingen von einer realen, akuten Bedrohungslage aus – einem möglichen Terroranschlag oder einem Amoklauf. Sie taten, was sie in einem solchen Fall tun müssen: Sie reagierten mit aller Härte und Professionalität. Straßen wurden gesperrt, ein Polizeihubschrauber stieg in die Luft, und Berichten zufolge wurde sogar ein Spezialeinsatzkommando (SEK) angefordert.

Bundeswehr: Chaos bei Großübung in Erding – Polizei schießt Soldat an - DER  SPIEGEL

In diesem Moment prallten zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite die Polizei, die sich einem echten, bewaffneten Feind gegenübersah. Auf der anderen Seite die Feldjäger der Bundeswehr, die sich mitten in ihrem Manöver wähnten. Als die Soldaten die heranstürmenden, schwer bewaffneten Polizisten sahen, begingen sie den zweiten fatalen Irrtum: Sie hielten die Beamten für einen Teil der Übung, für die “Feinddarstellung”. Sie zückten ihre Waffen, die – wie für eine Übung üblich – mit Platzpatronen geladen waren, und eröffneten das Feuer.

Für die Polizisten muss dies der Moment gewesen sein, in dem die Hölle losbrach. Sie sahen sich vermummten, bewaffneten Männern gegenüber, die sofort auf sie schossen. Sie konnten nicht wissen, dass es sich um Übungsmunition handelte. In ihren Ohren klangen die Schüsse real. Sie handelten nach ihrem Training, sie handelten in der Annahme, ihr Leben verteidigen zu müssen. Sie feuerten zurück.

Doch die Polizei schoss nicht mit Platzpatronen. Sie feuerte mit ihren scharfen Dienstpistolen.

Noch bevor dieser entsetzliche Irrtum aufgeklärt werden konnte, geschah das Unvermeidliche. Ein Soldat wurde getroffen. Ein Streifschuss im Gesicht, am Kopf. Ein Treffer, der nur Zentimeter von einer tödlichen Verletzung entfernt war. Der Soldat brach zusammen und musste umgehend per Hubschrauber in eine Klinik geflogen werden.

Man kann von Glück im Unglück sprechen, dass nicht noch mehr passiert ist. Dass wir nicht über mehrere Tote auf beiden Seiten berichten müssen – über Polizisten, die von vermeintlichen Terroristen erschossen wurden, oder über Soldaten, die von ihren eigenen Kameraden im Staatsdienst getötet wurden. Doch die Fassungslosigkeit bleibt. Wie, so fragt sich das ganze Land, kann so etwas passieren? Wie kann es sein, dass eine derart massive Militärübung, die explizit das “Zusammenwirken mit zivilen Einsatzkräften” trainieren soll, so katastrophal an der grundlegendsten aller Anforderungen scheitert: der Kommunikation?

Es ist ein kolossales Versagen auf Führungsebene. Irgendwo zwischen dem Kommando der Bundeswehr und den Präsidien der bayerischen Polizei ist die Information versandet. Entweder haben die Generäle der Bundeswehr es nicht auf die Reihe bekommen, eine so heikle Übung im öffentlichen Raum lückenlos bei allen zuständigen Polizeidienststellen anzumelden, oder die Polizei hat es versäumt, diese lebenswichtige Information an ihre Beamten auf der Straße weiterzugeben. Beides ist gleichermaßen erbärmlich und brandgefährlich.

Ereignisse im Nahost-Konflikt aus KW 3 im Rückblick | BR24

Den Beamten vor Ort kann man kaum einen Vorwurf machen. Die Anwohner taten ihre Pflicht. Die Polizisten im Einsatz reagierten auf einen Angriff und verteidigten sich. Selbst die Soldaten handelten im Rahmen ihres (vermeintlichen) Übungsbefehls. Doch dieser Befehl selbst wirft bizarre Fragen auf. Was für eine “geisteskranke Übung”, wie es ein Kommentator treffend nannte, sieht vor, dass deutsche Soldaten das Feuer auf klar erkennbare deutsche Polizisten eröffnen? Selbst wenn es nur ein Manöver ist, schafft dies eine Hemmschwelle, die in der Realität tödlich sein kann, oder, wie in diesem Fall, eine Verwechslung provoziert.

Dieser Vorfall ist mehr als nur eine peinliche Panne. Er ist ein Alarmsignal, das schriller nicht sein könnte. In einer Zeit, in der in Berlin und Brüssel viel über Kriegstüchtigkeit und Verteidigungsfähigkeit gesprochen wird, offenbart dieses Desaster eine erschreckende Realität. Wenn es den deutschen Sicherheitskräften nicht einmal gelingt, innerhalb der eigenen Landesgrenzen zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, wie soll dann eine komplexe nationale Verteidigungsstrategie im Ernstfall funktionieren?

Der Vorfall von Erding ist der ultimative Stresstest für das Vertrauen in die Kompetenz der eigenen Führung. Es ist ein beschämendes Schauspiel, das zeigt, wie dünn der Lack der organisierten Sicherheit ist, wenn die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Man mag sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn die Anwohner nicht nur “Vermummte”, sondern einen echten Terroranschlag gemeldet hätten, während die Polizeiressourcen durch eine nicht kommunizierte Übung gebunden sind.

Die Aufklärung muss nun lückenlos erfolgen. Es geht nicht nur um disziplinarische Konsequenzen für die Verantwortlichen in den Stäben. Es geht um die grundlegende Überprüfung der Kommunikationsprotokolle zwischen Bundeswehr und Polizei. Dieser Vorfall darf sich niemals wiederholen. Ein Soldat liegt verletzt im Krankenhaus, weil Bürokraten oder Kommandeure ihre einfachste Hausaufgabe nicht gemacht haben. Das ist die bittere Wahrheit hinter dem Chaos von Erding.

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