Der letzte gemeinsame Tanz: Wie der Doppelsuizid der Kessler-Zwillinge Deutschland zur schonungslosen Sterbe-Debatte zwingt
Der Tod ist in unserer modernen, auf Jugend und Leistung fixierten Gesellschaft ein Unfall, ein Versagen, ein Tabu. Er wird an den Rand gedrängt, abgeschoben in sterile Krankenhauszimmer und Hospize, bis er uns schließlich unvorbereitet und brutal in unserer Mitte trifft. Doch dann geschah etwas, das dieses sorgsam gepflegte Schweigen wie ein Donnerschlag zerriss: Die Kessler-Zwillinge, Alice und Ellen, die jahrzehntelang als Inbegriff von Eleganz, Synchronität und unbändiger Lebensfreude galten, wählten den Freitod. Und sie taten es gemeinsam, selbstbestimmt und in Würde. Ihr Doppelsuizid war nicht das Ergebnis einer unerträglichen, unheilbaren Krankheit, sondern eine bewusste Entscheidung gegen das künftige Leid – ein radikaler Akt der Selbstbestimmung, der eine längst überfällige, aber zutiefst schmerzhafte gesellschaftliche Debatte über das Sterben, die Würde und die Rolle von Kirche, Medizin und Politik in Gang gesetzt hat.

Der Pakt der Zwillinge: Sterben, bevor es unerträglich wird
Alice und Ellen Kessler, die in den 50er und 60er Jahren die Bühnen Europas und Hollywoods eroberten, lebten synchron. Ihr ganzes Leben war ein perfekt choreografiertes Ballett. Es verwundert daher kaum, dass sie auch den letzten Akt ihres Lebens gemeinsam inszenierten. Die Nachricht von ihrem Tod durch assistierten Suizid schlug ein wie eine Bombe, weil die Bilder, die die Öffentlichkeit von den beiden hatte, nicht mit dem typischen Bild des verzweifelten Sterbenden übereinstimmen wollten.
Tatsächlich waren die beiden Damen, wie Beobachter feststellten, „für ihr Alter auch fit, haben nicht mehr getanzt, aber sie sahen gut aus und hatten ja auch genug Geld und auch eine schöne Wohnung“. Ihre Entscheidung war keine Flucht vor akuter Not, sondern eine Prävention des Kontrollverlusts. Es war die stille Angst, die eigene Würde in einem unkontrollierbaren Prozess zu verlieren, die sie zum Handeln trieb. Die Überlegung, „sein Leben gerne erfüllt, beendet, bevor man so denkt. Doch hoffentlich sterbe ich bald oder es ist unerträglich“, bringt die Essenz ihres radikalen Entschlusses auf den Punkt. Sie wollten nicht auf den Tod warten, sondern ihn aktiv gestalten. Ihr Weg führte sie zur Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), die sie auf ihrem letzten, legalen Schritt begleitete. Ihr Tod war der ultimative Ausdruck ihrer lebenslangen Unabhängigkeit: gemeinsam und selbstbestimmt.
Dieser Fall ist so emotional aufgeladen, weil er uns eine unbequeme Frage stellt: Steht uns das Recht zu, unser Leben zu beenden, bevor wir leiden müssen? Und wenn ja, welche Verantwortung trägt die Gesellschaft gegenüber jenen, die sich aus Angst vor dem zukünftigen Zerfall für diesen Weg entscheiden? Die Antwort darauf liegt in einem komplizierten Geflecht aus Gesetzen, Ethik und dem persönlichen Glauben.
Die juristische und ethische Gratwanderung in Deutschland
Die Debatte ist in Deutschland juristisch eng umrissen. Aktive Sterbehilfe, also das Verabreichen eines tödlichen Mittels auf Wunsch des Patienten durch einen Dritten, ist strikt verboten. Anders verhält es sich mit der Beihilfe zum Suizid. Diese ist nicht strafbar, solange der Sterbewillige „eigenverantwortlich und aus freiem Willen“ handelt und die tödlichen Medikamente (wie Barbiturate) selbst einnimmt. Die begleitende Person oder Organisation besorgt lediglich die Mittel. Die Kessler-Zwillinge wählten diesen legalen, assistierten Weg, der die Grenze zwischen ärztlicher Pflicht zur Lebensverlängerung und dem Recht auf Selbstbestimmung auf dramatische Weise markiert.
Dieser rechtliche Spielraum öffnet jedoch die Schleusen für tiefgreifende ethische und theologische Konflikte, die exemplarisch im Hause von Anne und Nikolaus Schneider – dem ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland – sichtbar werden. Das Ehepaar, das selbst beide mit Krebsdiagnosen ringt und ein Buch über Sterbehilfe geschrieben hat, ist in dieser fundamentalen Frage zutiefst gespalten.
Nikolaus Schneider, der dem kirchlichen Lager entstammt, plädiert dafür, den Todeszeitpunkt in die Hand Gottes zu legen. Sein Impuls ist das unbedingte Vertrauen auf Gott. Er würde sich der Begleitung anderer anvertrauen, und zwar „bis zu einem Punkt, wo ich nicht mehr über mich selber bestimmen kann“. Er sieht in der assistierten Selbsttötung die große Gefahr, dass sie „eine ganz normale“ Option wird und dadurch die Alternative einer „hospizlichen Begleitung oder zu einer palliativen Begleitung“ in den Hintergrund rückt. Für ihn ist die Entscheidung für den Freitod ein Schritt, der das Gottvertrauen herausfordert und die Würde des Lebens im Sterben gefährdet.
Ganz anders klingt seine Frau Anne. Sie verortet die Entscheidung klar in der menschlichen Verantwortung. Für sie existiert kein göttlicher Masterplan für den Todeszeitpunkt: „Ich glaube also nicht, dass Gott das im Himmel dann irgendein Datum festsetzt. Und dann sagt er: Jetzt lasse ich die Anne Schneider sterben. […] Dann macht Gott ein Scheißjob, wenn ich so sehe die Todeszeitpunkt von Menschen“. Diese schonungslose, fast zornige Aussage legt den Finger in die Wunde: Der Glaube an ein vorbestimmtes Schicksal ringt mit der menschlichen Sehnsucht nach Kontrolle über das eigene Ende. Anne Schneider würde die Notwendigkeit sehen, sich die tödlichen Mittel, die ihr Mann ihr verwehren würde, selbst zu besorgen und die Entscheidung im Vorfeld zu klären. Die Kontroverse im Hause Schneider symbolisiert den Riss, der mitten durch die Gesellschaft und durch die intimsten Beziehungen geht.

Die Schock-Statistik: Der Tod gehört zurück ins Leben
Parallel zur theologischen Auseinandersetzung meldet sich die Medizin zu Wort, konfrontiert mit der brutalen Realität des Sterbens in Deutschland. Professor Uwe Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Kardiologie und Intensivmediziner, überschrieb einen Vortrag beim Deutschen Krankenhaustag mit dem Imperativ: „Lassen Sie uns mehr über das Sterben sprechen“. Für Janssens und viele seiner Kollegen ist die dringende Notwendigkeit, den „Tod wieder zurück ins Leben [zu] holen“, eine zentrale Aufgabe. Der Tod dürfe nicht mehr als „Unfall oder als Versagen“ empfunden werden.
Die Zahlen untermauern seine Forderung: 43 Prozent aller Menschen in Deutschland versterben in Krankenhäusern. Bei einer Million Todesfällen pro Jahr ist das eine erdrückende Verantwortung für das Gesundheitssystem – und oft ein unvorbereitetes Ende für die Betroffenen. Janssens kritisiert scharf, dass die Gespräche über den Tod viel zu spät beginnen, oft erst, wenn der schwerkranke Patient auf der Intensivstation liegt. Dabei müssten Ärzte von der ersten Minute an bei schwer kranken Menschen fragen: „Was ist denn das gewünschte Therapieziel? Was ist denn dein Lebensentwurf?“. Die Fokussierung auf die reine Heilung verkennt, dass in vielen Fällen die Medizin das Leben nicht retten kann. Sie muss stattdessen den Patientinnen und Patienten helfen, „wieder in das von ihnen gewünschte Leben zurückzukommen“.
Die entscheidende Vorarbeit müsse jedoch viel früher, außerhalb der Klinik, geleistet werden – „in der Familie, in Pflegeheimen“ und in „Hausarztpraxen“. Die Menschen sollen nicht unvorbereitet ins Krankenhaus kommen, sondern genau wissen, „was sie wollen“ und, noch viel wichtiger, „was sie nicht wollen“.
Die Macht der Palliativmedizin gegen den Todeswunsch
Der Intensivmediziner Janssens kennt die Verzweiflung der Menschen. Er wird mit direkten Bitten um Suizidbeihilfe konfrontiert. Seine Haltung ist klar und humanistisch: Er würde die Beihilfe zwar „selber nicht können und wollen“, aber er würde diese Menschen bedingungslos begleiten. Der Schlüssel liegt für ihn in der Palliativmedizin. Er fragt die Patienten: „Was ist denn deine Angst?“.
Die Erfahrung zeigt, dass der unmittelbare Wunsch nach dem Freitod oft eine Reaktion auf unerträgliche Ängste ist: Angst vor Schmerzen, Angst vor Luftnot, Angst vor dem Alleinsein und dem Kontrollverlust. Janssens’ medizinische Antwort ist die aktive, umfassende Begleitung: „Wir sind bei dir, wir stehen bei den Versuchen, dir deinen letzten Weg zu gestalten“. Durch die Einbeziehung der Angehörigen und die intensive medizinische Unterstützung – sei es auf der Intensivstation, der Normalstation oder in Palliativstationen – kann der direkte Todeswunsch in vielen Fällen gebrochen oder zumindest in eine andere Form der Selbstbestimmung überführt werden.
Wenn Patientinnen und Patienten spüren, dass sie angenommen, begleitet und medizinisch unterstützt werden, dass ihre Ängste, Schmerzen und Luftnot gelindert werden, dann weicht die Panik. Der Wunsch, durch eine aktive Handlung das Leben zu beenden, tritt oft hinter die Gewissheit zurück, dass das Leben auch im Sterben noch in Würde und ohne Qualen geführt werden kann. Janssens’ Ansatz bestätigt indirekt die Befürchtung von Nikolaus Schneider, dass Palliativmedizin als Alternative nicht ausreichend im Bewusstsein verankert ist.

Die Herausforderung der Selbstbestimmung
Der Tod von Alice und Ellen Kessler ist mehr als nur eine Schlagzeile; er ist ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Ängste und eine Aufforderung zum Handeln. Die Zwillinge haben uns gezeigt, dass Selbstbestimmung bis zum letzten Atemzug geht – und dass diese Entscheidung auch dann getroffen werden kann, wenn die akute, unmittelbare Not noch nicht eingetreten ist. Sie starben, wie sie gelebt hatten: gemeinsam und selbstbestimmt.
Die Debatte, die sie entfacht haben, ist notwendig, schmerzhaft und komplex. Sie verlangt von uns allen, uns mit den tiefsten Fragen des Lebens auseinanderzusetzen:
Recht auf Freitod vs. Schutz des Lebens: Wo liegt die ethische Grenze?
Glaube vs. Kontrolle: Darf der Mensch über das Ende bestimmen, oder liegt es in höherer Hand?
Medizinische Pflicht: Wie können Ärzte die Selbstbestimmung respektieren, ohne zur Tötung beizutragen?
Die Lücke in der Versorgung: Wie stellen wir sicher, dass die palliativmedizinische Begleitung, die Ängste lindern kann, zur echten und bekannten Alternative wird und nicht von der Option des assistierten Suizids überschattet wird?
Der Fall Kessler hat die Medizin, die Kirche und die Politik gezwungen, über das Sterben zu reden. Er hat uns gezeigt, dass wir nicht warten dürfen, bis der Tod in unsere Mitte tritt. Wir müssen lernen, den Tod wieder als integralen Bestandteil des Lebens zu akzeptieren und ihn bewusst in unseren Lebensentwurf zu integrieren. Nur so können wir sicherstellen, dass jeder Mensch – ob im Kreise der Familie, in der Hospizpflege oder, wie die Kessler-Zwillinge, durch eine letzte, radikale Entscheidung – seinen letzten Tanz in Würde und selbstbestimmt vollziehen kann. Es liegt in unserer Verantwortung, diese Lektion zu lernen und die Diskussion über das Sterben nicht länger an den Rand zu drängen.