Das schockierende Fehlen: War die Abwesenheit der Rolling Stones von Charlie Watts’ Beerdigung der ultimative Verrat – oder die tiefste Form von Loyalität?

Es gibt Momente in der Geschichte der Rockmusik, die in die DNA des Genres eingebrannt sind. Einer davon ist untrennbar mit dem Namen Charlie Watts verbunden, dem Schlagzeuger, der fast 60 Jahre lang den unverrückbaren Herzschlag der Rolling Stones lieferte. Als Watts im August 2021 friedlich in einem Londoner Krankenhaus verstarb, rechnete die Welt mit einem kollektiven, emotionalen Abschied. Die Bilder von Mick Jagger, Keith Richards und Ronnie Wood, vereint in tiefer Trauer am Sarg ihres Bruders, schienen bereits fest eingeplant.

Doch was sich in einem kleinen Dorf in Devon abspielte, schockierte Fans und Außenstehende gleichermaßen: Die Plätze seiner Bandkollegen blieben leer. Kein Jagger, kein Richards, kein Wood. Das Fehlen der Stones bei der privaten Trauerfeier ihres eigenen „Felsens“ wirkte auf viele unvorstellbar, fast wie ein Akt des Verrats an einer der engsten und langlebigsten Partnerschaften der Musikgeschichte. Die Wahrheit hinter ihrer Abwesenheit ist jedoch eine tiefgründige Geschichte, verwoben mit unerbittlicher Logistik, der Gefahr einer globalen Pandemie und dem tiefsten Respekt vor dem einzigartigen Charakter des Mannes, der das Spektakel verabscheute.

Die logistische Zwangslage: Boston oder Chaos

Die Antwort auf die schockierende Abwesenheit lag in den Details jenes späten August 2021. Die Rolling Stones befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Boston, USA. Dort waren sie mitten in den Endproben für den lange verschobenen US-Teil ihrer „No Filter Tour“, die am 26. September in St. Louis beginnen sollte. Wegen der COVID-19-Pandemie war diese Tour bereits einmal verschoben worden, und der Tourneeapparat war ein logistisches Monster, das Hunderte von Arbeitsplätzen umfasste und Millionen von Dollar an Kosten und vertraglichen Verpflichtungen mit sich brachte.

Drei Hauptmitglieder, mitten in dieser Countdownphase, über den Atlantik nach England zu fliegen und sie danach sofort wieder in die hochsensible Vorbereitungszone in den USA zurückzuholen, war nicht nur eine sentimentale Entscheidung, es war eine buchstäbliche logistische Explosion, die den gesamten Tour-Akt gefährdet hätte. Jeder Probentag, jede LKW-Buchung, jede Gewerkschaftsvereinbarung hing an einem seidenen Faden. Ein Ausfall oder eine Verzögerung von Jagger und Richards hätte eine Kettenreaktion von Absagen ausgelöst, die Fans, die seit 2019 ihre Tickets hielten, auf der Strecke gelassen hätte.

Hinzu kam die unberechenbare Gefahr des Reisens in Zeiten der Delta-Welle. Zwar hatte England die Regeln für geimpfte Reisende gelockert, doch die Band arbeitete innerhalb einer strengen Gesundheits-Bubble. Tests, Fristen und Dokumentationen waren Pflicht. Ein einziger positiver Befund in den Reihen der Stones hätte sofortige Isolation und damit das sofortige Ende der Stadionproduktion bedeutet. Für ein so gigantisches Projekt, das kurz vor dem Start stand, war das Risiko, die Hauptakteure durch die internationalen Flughäfen zu schicken, schlicht untragbar. Die Band musste abwägen: eine private Abschiednahme oder die Einhaltung eines Schwurs gegenüber Hunderten von Mitarbeitern und Zehntausenden von Fans.

Die tiefste Form von Loyalität: Charlies Wunsch

Doch die entscheidendste Komponente war Charlie Watts selbst. Sein Abschied war, wie sein Leben, schnell und beinahe verborgen. Über sechs Jahrzehnte lang hatte er es vorgezogen, im Schatten zu agieren und Jagger und Richards das Rampenlicht zu überlassen. Charlie verabscheute „Aufhebens“ – großes Spektakel und Trubel. Die Trauerfeier in Devon war bewusst als stille, private Beisetzung für seine Familie und engste Freunde konzipiert.

Die Stones wussten, dass ihr Erscheinen – die global sichtbarste Rockband der Welt – die private Zeremonie sofort in ein Medienspektakel verwandelt hätte. Paparazzi, Helikopter, Schlagzeilen: Alles, was Charlie sein Leben lang gemieden hatte, wäre über den letzten Akt seiner Würde hereingebrochen. Ihn im Stillen zu verabschieden, war daher keine Abwesenheit von Liebe oder Respekt, sondern der letzte, reinste Akt der Treue gegenüber einem Mann, der Würde dem Spektakel vorzog. In diesem Sinne war das Fernbleiben von Mick, Keith und Ronnie eine herzzerreißende Geste der Loyalität, die nur auf den ersten Blick wie ein Verrat wirkte.

Der Anker der Stones: Der Gentleman des Rock

Um die Tiefe des Verlusts zu verstehen, muss man die einzigartige Rolle Charlie Watts’ begreifen. Er war, wie Jagger später dem Rolling Stone Magazin gestand, „der Fels, um den die Band aufgebaut worden sei“ – die stille Kraft, die das Chaos davor bewahrte, in den Abgrund zu kippen. Richards, dessen Verbindung zu Watts bis in die Jugendjahre reichte, drückte es auf seine eigene, unnachahmliche Weise aus: „Charlie war mein Bett. Ich konnte mich darauf legen und ich wusste, es würde immer noch schaukeln. Das hatte ich, seit ich 19 war. Ich habe nie daran gezweifelt.“ Dieses Geständnis enthüllte eine Wahrheit, die Fans längst gespürt hatten: Das legendäre Selbstbewusstsein der Stones beruhte auf Charlies unerschütterlicher Beständigkeit.

Watts, geboren 1941 in Kingsbury, London, war anders als seine Kollegen. Seine erste Liebe galt nicht dem Rock’n’Roll, sondern dem Jazz. Er vergötterte Charlie Parker, hörte Duke Ellington und Max Roach. Er war ausgebildeter Grafiker und sah die Stones, als er 1963 zögerlich beitrat, zunächst nur als kämpfende Blues Coverband ohne verlässliches Einkommen, während er einen sicheren Job hatte. Sein Jazz-Hintergrund prägte seinen Stil: Er verzichtete fast immer auf Soli oder Showeinlagen und konzentrierte sich stattdessen auf Präzision, Timing und das subtile Wechselspiel der Besenarbeit. Sein Swing gab der Band ihren typischen Swagger und erlaubte es Richards, zu „fliegen“, weil er wusste, dass das Fundament niemals wanken würde.

Die Bühne als Denkmal: Der Abschied in St. Louis

Da die Stones ihn nicht am Grab ehren konnten, verwandelten sie ihre Bühne in ein Denkmal. Als die „No Filter Tour“ am 26. September 2021 in St. Louis fortgesetzt wurde, herrschte eine beinahe gespenstische Stille. Die Lichter erloschen, und die Riesenleinwände füllten sich mit Schwarz-Weiß-Bildern von Charlie: Clips aus den 1960er Jahren, Nahaufnahmen seiner eleganten Hände, sein schelmisches Lächeln. Ein einzelner Trommelschlag hallte durch das Stadion, und zehntausende Fans brachen in einen Schrei von Trauer und Applaus aus. Es war das erste Rolling-Stones-Konzert ohne Charlie Watts – ein herzzerreißender, historischer Moment.

Jagger, sichtbar bewegt, sprach zum Publikum: „Dies ist unsere erste Tournee überhaupt ohne ihn. Wir werden Charlie so sehr vermissen, auf und abseits der Bühne.“ An diesem Abend widmeten sie den Song Tumbling Dice Charlie. Von da an begann jedes Konzert mit seiner Präsenz im Set. Das legendäre Zungen- und Lippenlogo der Band erschien in Schwarz-Weiß als Symbol der Trauer, und das Videomontage-Ritual wurde zur allabendlichen Beschwörung, die sicherstellte, dass sein Herzschlag auch im Tode das Zentrum der Musik blieb.

Mehr als ein Rockstar: Der Konnisseur

Charlie Watts pflegte ein Leben, das bewusst im Kontrast zur Mythologie des Rock’n’Roll stand. Während Jagger und Richards die Exzesse lebten, heiratete Charlie 1964 Shirley Ann Shepard und blieb ihr fast sechs Jahrzehnte treu – eine Anomalie in ihrer Welt. Er lebte mit seiner Familie in Devon auf Halton Manor und schuf dort ein Refugium fernab des Chaos. Seine Leidenschaften waren kultiviert: Er züchtete arabische Pferde und erwarb sich in Reitsportkreisen einen Ruf für Seriosität und Fachkenntnis.

Trotz jahrzehntelanger globaler Tourneen lernte Charlie nie, Auto zu fahren. Er bewunderte Fahrzeuge wegen ihrer Ingenieurskunst und ihres Designs, nicht um sie über Autobahnen zu jagen. Als ausgebildeter Grafiker hörte er nie auf zu zeichnen; er füllte Skizzenblöcke mit Zeichnungen jedes Hotelzimmers, in dem er übernachtete – eine stille Dokumentation, die in scharfem Kontrast zu den Exzessen um ihn herumstand. Seine Bibliothek umfasste seltene Bücher, darunter eine signierte Erstausgabe von The Great Gatsby. Er war ein ernsthafter Student des Cricketsports und der Kunstgeschichte. Charlie Watts war ein Konnisseur, ein Mann kultivierter Geschmäcker, der Tiefe suchte, nicht Spektakel.

Sein Vermächtnis reichte weit über den Tod hinaus. 2023 erschien Hackney Diamonds, das erste Studioalbum der Stones seit 18 Jahren. Es enthielt zwei Titel, Mess It Up und Life by the Sword, auf denen noch Charlie zu hören war, aufgenommen in früheren Sessions. Diese posthumen Tracks erinnerten daran, wie unersetzbar er war. Der konstante Swing, die Leichtigkeit seines Spiels – ein geisterhafter Herzschlag, verwoben in den Stoff neuer Musik.

Die Rolling Stones waren an jenem schicksalhaften Tag in Devon nicht persönlich anwesend, doch auf ihre Weise hörten sie nie auf, sich zu verabschieden. Ihre Abwesenheit war kein Verrat, sondern eine herzzerreißende, logistische Notwendigkeit und der letzte, größte Liebesdienst an einem Mann, dessen Wunsch nach Würde und Stille ihnen immer mehr bedeutete als jede Schlagzeile. Der Rhythmus von Charlie Watts lebt weiter – im Vinyl, in den Erinnerungen und in dem unbeugsamen Groove, der die Rolling Stones zusammenhielt, als er nicht mehr da war.

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