Es ist ein Fall, der auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert nichts von seiner düsteren Faszination und seiner tragischen Schwere verloren hat. Eine Geschichte, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Volksmusik-Gemeinde und weit darüber hinaus eingebrannt hat. Es ist die Geschichte von Karlheinz Gross, dem visionären Manager der Kastelruther Spatzen, der auf dem Höhepunkt des Erfolgs brutal aus dem Leben gerissen wurde. Sein Tod ist bis heute ein Rätsel, ein ungesühntes Verbrechen, das eine Wunde hinterlassen hat, die niemals ganz verheilen wird – weder für seine Familie noch für die Band, die er zu einem Phänomen gemacht hat.
Der 6. März 1998 sollte ein Tag wie jeder andere im geschäftigen Leben von Karlheinz Gross sein. Die Kastelruther Spatzen hatten am Vorabend ein triumphales Konzert in Magdeburg gespielt, die Fans jubelten, die Kassen klingelten. Gross, der 38-jährige Bruder von Keyboarder und Akkordeonist Albin Gross, war der Motor hinter den Kulissen. Ein Mann, der mit unermüdlichem Einsatz und Geschäftssinn die Band aus den Südtiroler Bergen an die Spitze der Charts katapultiert hatte. Doch während die Bandmitglieder sich auf den Heimweg vorbereiteten, blieb Gross in der Stadt an der Elbe zurück. Ein Tourbus musste in die Werkstatt – eine Routineangelegenheit. Niemand ahnte, dass diese Entscheidung sein Todesurteil sein würde.
Was in den folgenden Stunden geschah, ist eine Chronologie des Schreckens, die sich aus bruchstückhaften Zeugenaussagen und polizeilichen Ermittlungen zusammensetzt. Am späten Nachmittag verließ Gross die Autowerkstatt im Stadtteil Rothensee. Zu Fuß, mit unbekanntem Ziel. Um 16:37 Uhr führte er ein letztes Telefonat mit seinem Bruder Albin, in dem er sich über die Mechaniker ärgerte. Ein alltägliches Gespräch, das im Nachhinein eine unheilvolle Bedeutung bekam. Gegen 17:00 Uhr versuchte er vergeblich, seine Frau zu erreichen. Danach verliert sich seine Spur für 118 entscheidende Minuten.
Es ist eine Zeitspanne, die zum Kern des gesamten Mysteriums wurde. 118 Minuten, in denen sich das Schicksal von Karlheinz Gross auf grausamste Weise erfüllte. Was tat er in dieser Zeit? Wen hat er getroffen? Wurde er in eine Falle gelockt? Diese Fragen quälen die Ermittler und seine Angehörigen bis heute.
Die Dunkelheit war bereits über Magdeburg hereingebrochen, als ein LKW-Fahrer gegen 18:15 Uhr auf einem abgelegenen, trostlosen Industriegelände auf der Steinkopfinsel eine schreckliche Entdeckung machte. Mitten auf der Straße lag ein Mann, schwer verletzt, blutüberströmt und nicht ansprechbar. Der Mann war Karlheinz Gross. Trotz einer sofort eingeleiteten Notoperation in der Universitätsklinik war sein Leben nicht mehr zu retten. Noch am selben Abend erlag er seinen Verletzungen. Die Obduktion ergab die grausame Wahrheit: Gross war Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Sein Schädel war zerschmettert, sein Körper wies massive Prellungen und Quetschungen auf. Es war Mord.
Die Nachricht traf die Kastelruther Spatzen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Schock wich einer lähmenden Trauer und Fassungslosigkeit. Besonders für Albin Gross war der Verlust seines Bruders ein unvorstellbarer Schmerz, eine Last, die er bis heute mit sich trägt. Die heile Welt der Volksmusik, die von Heimat, Liebe und unberührter Natur sang, hatte plötzlich eine dunkle, brutale Seite gezeigt.
Die Polizei stand vor einem Rätsel. Ein Raubüberfall konnte schnell ausgeschlossen werden. Bei Gross wurden 7.000 D-Mark, teurer Schmuck und sein Mobiltelefon gefunden. Der Täter hatte es nicht auf seine Wertsachen abgesehen. War es eine persönliche Auseinandersetzung, die eskalierte? Ein Racheakt? Die Ermittler tappten im Dunkeln. Der Tatort, ein unwirtlicher Ort, den nur Ortskundige aufsuchen, und der strömende Regen, der viele Spuren vernichtete, erschwerten die Arbeit der Kriminalisten erheblich.
Jahre vergingen. Jahre der Ungewissheit, der quälenden Fragen und der stillen Trauer. Der Fall Karlheinz Gross wurde zu einer der berüchtigten „Cold Cases“ in Deutschland. Doch die Hoffnung, das Verbrechen doch noch aufzuklären, starb nie. Vor allem die Familie Gross und die Bandmitglieder gaben nicht auf, an die Gerechtigkeit zu glauben.
Zwanzig Jahre nach der Tat, im Januar 2018, erlebte der Fall eine unerwartete mediale Wiederauferstehung. Die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst“ rollte den mysteriösen Mordfall neu auf. Millionen von Zuschauern verfolgten die Rekonstruktion der letzten Stunden im Leben von Karlheinz Gross. Die Band selbst rief auf ihrer Facebook-Seite dazu auf, die Sendung zu schauen: „Wir hoffen sehr, dass dieses grausame Verbrechen endlich aufgeklärt wird“, schrieben sie. Sänger Norbert Rier drückte die kollektive Hoffnung aus, dass sich vielleicht jemand erinnert, sein Gewissen erleichtern will oder durch Zufall der entscheidende Hinweis eingeht.
Und tatsächlich schien es einen Durchbruch zu geben. Im Zuge der neuen Ermittlungen wurde bekannt, dass am Mantel des Opfers eine entscheidende Spur gesichert werden konnte: vier fremde Haare. Eine DNA-Spur. Der genetische Fingerabdruck des Mörders. Diese Entdeckung war ein Paukenschlag, ein Hoffnungsschimmer am Horizont. Plötzlich schien es möglich, den Täter auch nach so langer Zeit zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Doch trotz Dutzender neuer Hinweise, die nach der Sendung bei der Polizei eingingen, führte die Spur bislang nicht zum Täter. Das Phantom von Magdeburg blieb unauffindbar.
Der ungelöste Mord an Karlheinz Gross ist mehr als nur ein Kriminalfall. Er ist eine Geschichte über den jähen Einbruch der Gewalt in eine Welt, die von Harmonie und Idylle lebt. Er zeigt die Zerbrechlichkeit des Erfolgs und des Lebens selbst. Für die Kastelruther Spatzen wurde der Tod ihres Managers und Freundes zu einer Zäsur. Sie machten weiter, auch für ihn, aber der Schatten dieses Verbrechens begleitet sie bei jedem Konzert, bei jedem Jahrestag. „Die Erinnerung an Karl-Heinz ist auch viele Jahre nach seinem Tod noch da“, sagte Norbert Rier einmal in einem Interview.
Heute, über 25 Jahre später, ist die Frage nach dem „Warum“ immer noch die lauteste. Warum musste ein vierfacher Familienvater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein Mensch, der mitten im Leben stand, auf so bestialische Weise sterben? Die Antwort kennt nur der Täter. Ein Mensch, der seit Jahrzehnten mit dieser Schuld lebt und vielleicht glaubt, seiner Strafe für immer entkommen zu sein. Doch die Ermittler geben nicht auf. Und solange es eine DNA-Spur gibt, besteht die Chance, dass die Wahrheit eines Tages doch noch ans Licht kommt und die Familie von Karlheinz Gross den Frieden findet, nach dem sie sich so lange sehnt. Der Fall bleibt ein Mahnmal dafür, dass hinter den glänzenden Fassaden des Showgeschäfts manchmal die tiefsten menschlichen Abgründe lauern.