Er war der Mann, dessen Gesicht eine ganze Nation kannte, dessen Humor so unverkennbar war wie das hängende Augenlid, das er zu seinem Markenzeichen machte. Karl Dall, der freche Ostfriese mit der losen Zunge und dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, war mehr als nur ein Komiker. Er war ein Phänomen, ein Störfaktor im glattgebügelten deutschen Fernsehen, ein Provokateur, der die Grenzen des guten Geschmacks auslotete und sein Publikum lehrte, über sich selbst zu lachen. Doch hinter der Fassade des Blödelbarden und Anarcho-Entertainers verbarg sich ein Leben voller überraschender Wendungen, privater Stabilität, schmerzhafter Anfeindungen und einem tragischen Ende, das niemanden unberührt ließ. Dies ist die Geschichte eines Mannes, der seine vermeintliche Schwäche in seine größte Stärke verwandelte und unsterblich wurde.
Geboren am 1. Februar 1941 in Emden, mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, schien sein Weg nicht für die große Bühne vorbestimmt. Als Sohn eines Schulrektors und einer Lehrerin wuchs Karl Bernhard Dall in einem disziplinierten, bildungsbürgerlichen Haushalt auf. Ein Detail unterschied ihn jedoch von Anfang an von anderen Kindern: eine angeborene Ptosis, ein hängendes Augenlid, das sein linkes Auge teilweise verdeckte. Was für viele ein Grund zur Unsicherheit gewesen wäre, wurde für den jungen Karl zu einem prägenden Merkmal. Anstatt es zu verstecken, machte er es zu einem integralen Bestandteil seiner Persönlichkeit. Er lernte früh, dass der beste Weg, mit Andersartigkeit umzugehen, der frontale Angriff ist – mit Humor als schärfster Waffe. Nach der Schule brach er eine Lehre zum Schriftsetzer ab und zog Ende der 1950er Jahre nach Berlin, dem damaligen Epizentrum der kreativen Subkultur. Er wollte auf die Bühne, ins Theater, ins Kabarett – dorthin, wo er seine exzentrische Art ausleben konnte.
Der Durchbruch ließ auf sich warten, doch 1967 schlug seine Stunde. Gemeinsam mit Ingo Insterburg, Jürgen Bartz und Peter Ehlebracht gründete er die Komikergruppe Insterburg & Co. Ihre Mischung aus absurdem Theater, Nonsens-Liedern und improvisiertem Klamauk war ein Novum in der deutschen Unterhaltungslandschaft. Sie waren die “Blödelbarden der Nation” und trafen den Nerv einer Generation, die sich nach dem Muff der Nachkriegszeit nach Respektlosigkeit und neuer Freiheit sehnte. Auftritte im legendären “Musikladen” machten sie zu Stars. Doch während Insterburg & Co. als Kollektiv funktionierten, war es Karl Dall, der mit seiner unberechenbaren Art und seiner visuellen Präsenz herausstach.
Während seine Karriere an Fahrt aufnahm, fand er privat sein größtes Glück. 1971 heiratete er seine Frau Barbara, die bis zu seinem Tod der Fels in der Brandung blieb. Ihre Tochter Janina, die später als Stuntfrau und Kulissenbauerin in Kanada arbeitete, komplettierte das Familienglück. Diese stabile Basis war der essenzielle Gegenpol zu seinem öffentlichen Image als chaotischer Witzbold. Sie ermöglichte es ihm, auf der Bühne und vor der Kamera alle Hemmungen fallen zu lassen, weil er wusste, dass es einen sicheren Hafen gab, in den er zurückkehren konnte.
Ende der 70er Jahre war die Zeit von Insterburg & Co. vorbei, und Dall startete seine Solokarriere im Fernsehen. Seine Rolle als provokanter Außenreporter und Störenfried in der Erfolgsshow “Verstehen Sie Spaß?” (1983-1990) machte ihn endgültig zum Superstar. Hier konnte er seine größte Stärke ausspielen: Menschen aus dem Konzept zu bringen. Er war der Meister der unerwarteten Frage, der peinlichen Situation, des Moments, in dem die professionelle Fassade seiner Gegenüber bröckelte.
Der absolute Höhepunkt seiner Karriere war zweifellos seine eigene Talkshow “Dall-As” (1985-1991) auf RTL.Das Konzept war so einfach wie genial: Dall lud Prominente ein, nur um sie mit Fragen zu bombardieren, die sich niemand sonst zu stellen traute. Er war respektlos, unverschämt und oft an der Grenze zur Beleidigung. Legendär ist der Moment, als der Schlagersänger Roland Kaiser nach wenigen Minuten entnervt das Studio verließ, weil Dall ihn permanent mit Fragen zu seinem Künstlernamen und seinem Aussehen provozierte. Doch genau das war es, was die Zuschauer liebten. Dall entlarvte die Eitelkeiten des Showgeschäfts und schuf Momente authentischer, wenn auch oft unangenehmer, Fernsehunterhaltung.
Neben dem Fernsehen pflegte er eine weitere Leidenschaft: die Musik. Schon mit Insterburg & Co. landete er mit “Ich liebte ein Mädchen” einen Hit. Solo perfektionierte er den “Blödelschlager”, eine Parodie auf das Genre, mit Titeln wie “Diese Scheibe ist ein Hit” oder “Millionen Frauen lieben mich”. Er nahm weder sich noch die Musikindustrie ernst und feierte damit paradoxerweise große Erfolge. Auch die Filmwelt konnte seiner Anziehungskraft nicht widerstehen. Von einer winzigen Rolle in “Winnetou 1” (1963) bis zu Hauptrollen in Kult-Klamotten wie “Sunshine Reggae auf Ibiza” (1983) zog sich seine schräge Präsenz durch über 20 Produktionen. Er spielte dabei meistens einfach sich selbst: den liebenswerten, chaotischen Stinkstiefel.
Doch das Leben eines Mannes, der ständig austeilte, war nicht ohne Schattenseiten. Sein unermüdlicher Arbeitseinsatz forderte gesundheitlich seinen Tribut, Probleme mit den Augen und dem Kreislauf machten ihm zu schaffen. Die dunkelste Stunde schlug jedoch 2014, als er in der Schweiz fälschlicherweise der Vergewaltigung beschuldigt wurde. Obwohl er 2015 von allen Vorwürfen freigesprochen wurde, war die öffentliche Schlammschlacht eine enorme Belastung für ihn und seine Familie. Der Mann, der sein Leben lang mit Provokationen gespielt hatte, wurde plötzlich Opfer einer bösartigen Verleumdung, die seinen Ruf zu zerstören drohte.
Er kämpfte sich zurück, doch der Vorfall hinterließ Spuren. Im November 2020, im Alter von 79 Jahren, stand er für die Telenovela “Rote Rosen” vor der Kamera. Er war voller Tatendrang, wollte es noch einmal wissen. Doch während der Dreharbeiten erlitt er einen schweren Schlaganfall. Wenige Tage später verstarb er. Sein Tod kam plötzlich und riss eine unersetzliche Lücke in die deutsche Unterhaltungslandschaft. Aufgrund der Corona-Pandemie fand seine Beisetzung erst im Juni 2021 statt – eine Seebestattung vor der Küste von Sylt, seiner Lieblingsinsel.
Karl Dalls Vermächtnis ist weit mehr als eine Sammlung von Witzen und frechen Sprüchen. Er war ein Pionier, der bewies, dass man aus einer vermeintlichen körperlichen Schwäche ein unschlagbares Kapital machen kann. Er hat dem deutschen Fernsehen die Angst vor dem Unperfekten genommen und eine ganze Generation von Komikern beeinflusst. Er war der Beweis dafür, dass Authentizität, auch wenn sie unbequem ist, am Ende das Publikum gewinnt. Karl Dall war nicht nur der Mann mit dem hängenden Augenlid; er war ein Rebell mit einem großen Herzen, eine Legende, die uns gelehrt hat, dass der größte Witz oft das Leben selbst ist.