Jahrzehntelang war Nina Hagen ein wandelndes Ausrufezeichen, ein kultureller Komet, der am Rande von Ruhm und Skandal verglühte. Sie war die Frau, die im Fernsehen schrie, die zugleich wie eine Operndiva und eine Punk-Rebellin sang und sich niemals in eine der Kategorien einordnen ließ, die die Gesellschaft ihr aufzwingen wollte. Doch hinter den schrillen Kostümen, den schockierenden Interviews und den wilden Geschichten verbarg sich immer eine leisere, tiefere Wahrheit – ein Schmerz und eine Sehnsucht, die sie nur selten offenbarte. Jetzt, mit 70 Jahren, zittert Ninas Stimme nicht mehr vor Rebellion, sondern vor Offenbarung. Und das Geständnis, das sie ablegt, ist genau das, was viele schon immer vermutet haben: Die lauteste Provokateurin Deutschlands war im Kern eine fragile Überlebende, gezeichnet von den tiefen Narben einer verlorenen Kindheit.
Kindheit in einem zerbrochenen Land
Geboren 1955 in Ostberlin, im Schatten zerbombter Ruinen und in einem Land, das von Krieg und Ideologie zerrissen war, begann Nina Hagens Leben in einem Käfig aus Privilegien und Misstrauen. Als Tochter der gefeierten Schauspielerin Eva-Maria Hagen, der „Brigitte Bardot des Ostens“, und des Drehbuchautors Hans Oliva-Hagen, schien ihr Weg vorgezeichnet. Doch der Schein trog. Die Stasi hatte die Familie längst als „unzuverlässig“ eingestuft, vor allem wegen der Beziehung ihrer Mutter zum regimekritischen Liedermacher Wolf Biermann. Dieses politische Stigma sollte Ninas Jugend prägen.
Ihr Traum, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und Schauspielerin zu werden, wurde abrupt zerstört. Ihre Bewerbung an einer Schauspielschule wurde mit einem einzigen, brutalen Wort abgestempelt: „verhindern“. Es war eine Bestrafung für die Gesinnung ihrer Familie, ein klares Signal, dass sie nicht dazugehörte. Von Anfang an wurde sie als politisch gefährlich betrachtet. Dennoch fand sie ihren Weg. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Schlagersängerin und ihre außergewöhnliche Stimme, die vier Oktaven umfasste, wurde schnell zu ihrem Markenzeichen. Mit der Band Automobil landete sie einen Hit, der Fluch und Segen zugleich war: „Du hast den Farbfilm vergessen“. Das Lied machte sie in der DDR zum Star, doch dieser Ruhm bedeutete auch ständige Überwachung.
Während ihre Karriere begann, zerbrach ihr privates Leben. In ihren Memoiren offenbarte sie später traumatische Erlebnisse. Mit 13 Jahren der Verlust ihrer Jungfräulichkeit, mit 15 eine Abtreibung in Polen, die ihre Mutter gegen ihren Willen arrangiert haben soll – ein Eingriff, den sie als erniedrigend und traumatisch beschrieb. Dieser Verrat trieb einen tiefen Keil zwischen Mutter und Tochter, eine Wunde, die niemals heilen sollte. Schließlich aus dem Haus geworfen, stand sie allein in einer Welt, die ihr mehr Wunden als Orientierung bot. Als Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert wurde und Nina öffentlich ihre Solidarität bekundete, war ihr Schicksal besiegelt. Als „asozial“ gebrandmarkt, nutzte sie die erste Gelegenheit, das Land zu verlassen. Sie ging in den Westen, nicht nur als Auswanderin, sondern als Exilantin, beladen mit dem Versprechen von Freiheit und der Last einer zerrissenen Vergangenheit.
Die Geburt einer Punk-Göttin im Westen
Als Nina Hagen Ende 1976 im Westen ankam, brachte sie mehr mit als nur einen Koffer. Sie brachte Wut, Talent und einen unbändigen Hunger nach Ausdruck, den die DDR unterdrückt hatte. Die westdeutsche Musikszene stand kurz vor der Punk-Explosion, und Nina passte perfekt in diesen Sturm. In Kreuzberg gründete sie 1977 die Nina Hagen Band. Von Anfang an war sie eine Sensation. Sie sang nicht nur, sie performte mit ihrem ganzen Körper, verzog ihr Gesicht zu grotesken Grimassen, heulte und schrie, um im nächsten Moment in einen glasklaren Opernsopran zu wechseln. Ihre erste Single, „TV-Glotzer“, wurde zu einem Statement gegen Konsumismus und die Banalität des modernen Lebens.
Das Debütalbum „Nina Hagen Band“ erregte internationale Aufmerksamkeit. Plötzlich war sie mehr als eine Flüchtige aus dem Osten; sie war ein Symbol des Aufbegehrens. Doch das Chaos war ihr ständiger Begleiter. Ihre Bandkollegen warfen ihr vor, unberechenbar und egozentrisch zu sein. Die Spannungen führten zur Auflösung der Band nach dem zweiten Album „Unbehagen“. Während die Männer als „Spliff“ erfolgreich weitermachten, schlug Nina einen Solopfad ein, der sie zur „Patin des Punk“ machen sollte.
Die 1980er Jahre waren geprägt von künstlerischer Radikalität und persönlichen Dramen. Ihr Album „NunSexMonkRock“ war eine bizarre, aber geniale Mischung aus Punk, Oper, Gospel und New Wave. Sie wurde für ihre skandalösen Interviews berüchtigt, in denen sie Sexualstellungen demonstrierte oder Politiker attackierte. Für die einen war sie eine Peinlichkeit, für die anderen eine furchtlose Wahrheitsverkünderin. Ihr Privatleben war nicht weniger turbulent. Eine kurze, aber intensive Beziehung mit dem selbstzerstörerischen Rocker Herman Brood, gefolgt von der Liebe zum heroinabhängigen Gitarristen Ferdinand Karmelk, mit dem sie ihre Tochter Cosma Shiva bekam. Die Tragödie schlug 1988 erneut zu, als Karmelk an AIDS starb und Cosma ohne Vater aufwuchs.
Skandale, Glaube und eine zerbrochene Familie
In den 1990er Jahren war Nina Hagen längst mehr als eine Sängerin. Sie war ein wandelndes Spektakel, ein Garant für Kontroversen. Ihre Musik wurde experimenteller, doch das eigentliche Drama spielte sich abseits der Bühne ab. Der Fall der Berliner Mauer 1989 war für sie ein zutiefst persönliches Ereignis, ein Symbol der Freiheit, das aber auch ihre inneren Widersprüche offenzulegen schien. Ihre öffentlichen Ausbrüche wurden schärfer, ihre Zunge war eine Waffe, die sie ohne Rücksicht auf Konsequenzen einsetzte.
Ihre Suche nach Liebe blieb ein stürmischer Kreislauf aus Intensität, Leidenschaft und Herzschmerz. Auf die Beziehung mit Frank Chevalier, dem Vater ihres Sohnes Otis, folgten mehrere Ehen mit deutlich jüngeren Männern, die alle nach kurzer Zeit zerbrachen, oft überschattet von öffentlichen Vorwürfen und Dementis. Parallel dazu verschlechterte sich ihr Verhältnis zu ihrer Mutter Eva-Maria Hagen dramatisch. Ein Rechtsstreit im Jahr 2000, bei dem Nina ihre Mutter verklagte, weil diese intime Fotos von ihr veröffentlicht hatte, führte zum endgültigen Bruch. Es war ein tragischer Riss in einer Familie, die bereits von Politik, Exil und persönlichen Traumata gezeichnet war.
Gleichzeitig war Nina immer auch eine Suchende. In den 80ern flirtete sie mit dem Hinduismus, sprach offen über UFO-Sichtungen und mystische Gespräche mit Gott auf LSD-Trips. Für viele war dies ein Zeichen von Wahnsinn, doch für sie war es Teil einer ruhelosen spirituellen Reise. Im Jahr 2009, mit 54 Jahren, fand sie schließlich ihr spirituelles Zuhause und ließ sich evangelisch-reformiert taufen. Ihr Album „Personal Jesus“, gefüllt mit Gospel- und Blues-Covern, war ein Bekenntnis zu ihrem wiedergefundenen Glauben. Zum ersten Mal gab die Frau, die lange als Göttin bezeichnet wurde, zu, dass sie nur ein Mensch war, auf der Suche nach dem Göttlichen. Doch selbst im Glauben entkam sie dem Skandal nicht. Ihre exzentrischen Aussagen machten weiterhin Schlagzeilen, und die Presse schwankte zwischen Spott und Bewunderung. Es wurde immer klarer, dass Nina Hagen nicht nur gegen die Welt kämpfte, sondern auch gegen sich selbst.
Das späte Geständnis und ein bleibendes Vermächtnis
Mit den Jahren hörte Nina Hagen nie auf, unberechenbar zu sein, doch das Alter verlieh ihren Worten ein neues Gewicht. Sie war nicht mehr die schrille Provokateurin, sondern eine Frau, die begann, die Wahrheiten einzugestehen, die sie lange unter Schockeffekten verborgen hatte. Die Geste von Angela Merkel, die sich zu ihrem Abschied als Bundeskanzlerin „Du hast den Farbfilm vergessen“ wünschte, war eine späte, symbolische Anerkennung. Ein Lied, das einst das sozialistische Leben verspottete, war zur Nationalhymne des Abschieds geworden.
In ihren späten Interviews und Memoiren sprach sie immer offener über das Trauma ihrer Jugend, die Demütigung der erzwungenen Abtreibung, die Wut auf ihre Mutter und den Schmerz, Partner an Sucht und Krankheit verloren zu haben. Sie gab zu, sich hinter exzentrischen Worten versteckt zu haben, aus Angst, als schwach zu gelten. Was viele immer vermutet hatten – dass die lauteste Punk-Göttin Deutschlands im Kern eine zutiefst verletzte Seele war – kam nun aus ihrem eigenen Mund.
Ihr ganzes Leben hatte sie gegen Autoritäten, gegen die Familie, gegen Gott selbst angeschrien, nur um am Ende zu erkennen, dass sie sich immer nur nach Anerkennung und Frieden gesehnt hatte. Für Nina Hagen war dieses späte Eingeständnis keine Schwäche. Es war ein Akt des Überlebens. Ihr Vermächtnis ist nicht nur ihre Musik, die Generationen geprägt hat. Es ist die Geschichte einer Frau, die sich weigerte, sich vereinfachen zu lassen, die in ihren Widersprüchen zutiefst menschlich war. Die Tragödie ist, dass hinter dem Spektakel eine Frau stand, die sich nach einer einfachen Form von Liebe sehnte, die sie nur selten fand.
Mit 70 hat Nina Hagen es offen zugegeben und damit ihrem Leben eine seltsame Form von Frieden geschenkt. Ihr Platz in der Geschichte ist sicher, nicht nur als „Godmother of Punk“, sondern als eine Überlebende, deren Kunst aus Trauma geboren wurde. Ihre Geschichte erinnert uns daran, dass selbst die lautesten Stimmen oft die tiefsten Wunden verbergen. War ihr Leben eine Tragödie oder ein Triumph des Überlebens? Vielleicht war es beides – und genau das macht es so unvergesslich.