Ein Phänomen, das Generationen verbindet. Wenn die Kastelruther Spatzen die Bühne betreten, ist die Stimmung garantiert. Ihre Musik, oft als “Heile-Welt-Musik” bezeichnet, füllt die größten Hallen im deutschsprachigen Raum. Seit Jahrzehnten dominieren sie die Szene, ein Fels in der Brandung der sich schnell wandelnden Musikindustrie. Bald ist es wieder so weit: Das Bremer Musical Theater bereitet sich auf den hohen Besuch aus Südtirol vor. Doch hinter der Fassade des unerschütterlichen Erfolgs, hinter den goldenen Schallplatten und der scheinbar endlosen Fan-Treue, verbirgt sich ein Mann, der das Rampenlicht anders erlebt, als viele vermuten würden.

Norbert Rier, der charismatische Frontmann der Gruppe, geboren 1960 in Kastelruth, ist das Gesicht dieses Erfolgs. Seit er 1983 die Leitung der Spatzen übernahm, steuert er das Schiff durch alle Höhen und Tiefen. Man könnte meinen, ein Mann mit einer solchen Erfahrung – verheiratet, vierfacher Vater und nebenbei erfolgreicher Züchter von Haflingerpferden – stünde über den Dingen. Doch in einem seltenen und ehrlichen Gespräch gewährt Rier einen tiefen Einblick in seine Gefühlswelt. Ein Einblick, der das Bild des souveränen Stars ins Wanken bringt und ihn doch nur noch menschlicher macht.
Das Gespräch beginnt mit dem, was die Spatzen ausmacht: neue Musik. Wenn ein neues Album produziert wird, worauf legt der Maestro den größten Wert? Riers Antwort ist so klar wie seine Bergluft-Heimat: “Es ist mir ein persönliches Anliegen, dass es schöne Lieder mit sinnvollen Texten sind, die aus dem Leben greifen.” Es geht ihm nicht um leere Phrasen, sondern um “eine harmonische Melodie, die auch schnell ins Ohr geht.” Diese Philosophie ist vielleicht das erste Geheimnis ihres Erfolgs: Authentizität in einer oft oberflächlichen Welt.
Doch was ist mit dem Stigma der “Heilen Welt”? Viele Kritiker nutzen diesen Begriff, um die Volksmusik in eine Nische der Realitätsflucht zu drängen. Norbert Rier sieht das pragmatisch und weise. Er wehrt sich nicht gegen den Begriff, er definiert ihn um. “Meines Erachtens sollte Musik grundsätzlich dafür da sein, die Leute zu unterhalten”, erklärt er. Es geht um Entspannung, darum, den “Fantasien freien Lauf lassen zu können und so einen Moment heile Welt zu erfahren.” Rier verkauft keine Utopie, er bietet eine wohlverdiente Pause. Einen Zufluchtsort für die Seele in stürmischen Zeiten.

Ein solcher Erfolg, der über Jahrzehnte anhält, ist in der Musikbranche eine Seltenheit. Die Fans halten den Kastelruther Spatzen eine Treue, die fast beispiellos ist. Gewöhnt man sich daran? Rier ist ehrlich: “Sicherlich gewöhnt man sich an vieles.” Doch er schiebt sofort nach, was ihn und die Band auf dem Boden hält: “Es ist uns auch bewusst, dass nichts selbstverständlich ist.” Diese Demut gipfelt in einem Satz, der die tiefe Verbundenheit zu ihrem Publikum offenbart: “Und nach wie vor ist uns bewusst, dass wir die Fans brauchen wie die Luft zum Atmen.” Es ist keine leere Floskel, es ist die Existenzgrundlage.
Dieses Bewusstsein prägt auch das Leben auf Tour. Die Spatzen sind ständig unterwegs, reisen vom bergigen Südtirol ins flache Norddeutschland, wie etwa nach Bremen. Ein Leben aus dem Koffer. “Wenn man so viel unterwegs ist wie wir es sind”, sinniert Rier, “so ist es immer wieder schön, wenn man nach einer langen Reise wieder gesund nach Hause kommt.” Dieses Gefühl, diese Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln, war die Inspiration für einen ihrer größten Hits: “Heimat”. Auf den wochenlangen Tourneen sehen sie viele Städte, und Rier bemerkt sensibel die “wechselnden Mentalitäten”. Es ist diese Beobachtungsgabe, dieses geerdete Wesen, das seine Texte so nachvollziehbar macht.
Doch der Kern des Gesprächs, der Moment, der aufhorchen lässt, ist die Frage nach dem Lampenfieber. Ein Mann, der Tausende von Konzerten gespielt hat, der jede Bühne im Schlaf kennen müsste – ist der überhaupt noch aufgeregt?
Riers Antwort ist ein Paukenschlag der Verletzlichkeit. “Es klingt vielleicht ein wenig absurd”, setzt er an, “aber ich bin nach wie vor jedem Auftritt nervös.” Nicht nur bei großen Premieren. Vor jedem einzelnen Abend. Jedes Mal, wenn der Vorhang aufgeht. Es ist ein Geständnis, das man von einem Veteranen seines Kalibers nicht erwartet. Doch Rier hat eine Erklärung dafür, die seine Nervosität nicht als Schwäche, sondern als ultimatives Qualitätsmerkmal entlarvt: “Jedoch ist das meiner Meinung nach der Fall, weil man die Sache immer noch sehr ernst nimmt.”
Hier schließt sich der Kreis. Die Nervosität ist der Respekt vor dem Moment. Es ist der Respekt vor den Fans, die “wie die Luft zum Atmen” sind. Es ist der Druck, jenen “Moment heile Welt” zu liefern, den die Menschen suchen. Wer die Sache nicht mehr ernst nimmt, wer nicht mehr nervös ist, der ist vielleicht schon im Ruhestand. Rier ist es nicht. Für ihn ist dieses Gefühl, diese Mischung aus Anspannung und Vorfreude, trotz aller Routine “nach wie vor unbeschreiblich und einfach nur schön.”
Es ist diese ungeschminkte Menschlichkeit, die den Kern der Kastelruther Spatzen ausmacht. Norbert Rier ist kein unnahbarer Star, er ist ein Mann aus Kastelruth, der Musik macht. Ein Mann, der neben der Bühne eine Haflingerzucht betreibt, als bräuchte er diesen Gegenpol, dieses Stück greifbare, ehrliche Erde, um die Welt des Scheins zu balancieren.
Wenn das Publikum in Bremen die Halle füllt, dürfen sie sich auf eines verlassen: “Jede Menge Live Musik der Kastelruther Spatzen und eine Bombenstimmung.” Aber sie werden noch etwas erleben. Sie werden einen Frontmann sehen, der vielleicht kurz vor dem Auftritt hinter dem Vorhang stand und dessen Herz bis zum Hals schlug. Nicht aus Angst, sondern weil es ihm, auch nach vierzig Jahren, verdammt noch mal wichtig ist. Und genau das ist der Grund, warum die Menschen ihn und seine Musik so sehr lieben.