Letzte Moment von Günther Messner – Das ungelöste Rätsel des Nanga-Parbat-Absturzes. Was geschah wirklich in den entscheidenden Minuten, und welche ungeklärten Fragen bleiben bis heute über diesen tragischen Bergunfall?
Der letzte Moment von Günther Messner – Eine Tragödie am Nanga Parbat
Von unserer Redaktion
Es ist ein Sommer, der in die Geschichte des Alpinismus eingehen sollte – und in eine der größten Kontroversen, die das Bergsteigen je gesehen hat. Im Juni 1970 verlieren die Südtiroler Brüder Reinhold und Günther Messner am Nanga Parbat, dem sogenannten „Schicksalsberg“, den Kampf gegen Höhe, Erschöpfung und Zeit. Nur einer kehrt zurück. Der andere, Günther, bleibt in der Todeszone zurück – und mit ihm ein Rätsel, das bis heute nachhallt.
Kindheit in den Dolomiten
Günther Messner wird am 18. September 1946 in St. Peter im Villnößtal geboren, einem abgeschiedenen Bergdorf in Südtirol. Umgeben von den Dolomiten wachsen er und sein älterer Bruder Reinhold in einer Welt auf, in der Berge keine bloße Kulisse sind, sondern ständige Begleiter des Alltags. Schon früh werden beide von ihrem Vater mitgenommen auf Wanderungen, lernen Respekt vor Wetter, Fels und Schnee.
Reinhold gilt bald als Ausnahmetalent, wagt schwierige Klettereien und zieht Aufmerksamkeit auf sich. Günther bleibt im Schatten, weniger im Rampenlicht, aber ebenso leidenschaftlich. Freunde beschreiben ihn als still, verlässlich und diszipliniert. Für Reinhold ist er mehr als nur der jüngere Bruder – er ist Seilpartner, Vertrauter und Begleiter in entscheidenden Momenten.
Die Expedition 1970
Die Expedition zum Nanga Parbat im Jahr 1970 wird von Karl Maria Herrligkoffer geleitet. Sie ist als „Sigi-Löw-Gedächtnisexpedition“ geplant, zu Ehren eines Bergsteigers, der 1962 am Berg ums Leben kam. Herrligkoffer, bekannt für seine strenge Führung, wählt das Team sorgfältig aus. Günther ist ursprünglich nicht vorgesehen, rückt jedoch kurzfristig nach, als andere abspringen.
Für ihn bedeutet das eine einmalige Chance: Seite an Seite mit seinem Bruder an einem der gefährlichsten Berge der Erde zu stehen. Die Route, die gewählt wird, ist spektakulär und riskant – die Rupalwand, mit 4.500 Metern die höchste Steilwand der Welt. Schon beim Anblick verstummen die erfahrensten Bergsteiger. Hier gibt es keinen Platz für Fehler.
Kampf gegen den Berg
Wochenlang schleppt das Team Material, richtet Hochlager ein und kämpft gegen Wetter und Lawinengefahr. Günther beweist dabei seine Stärke. Er spricht wenig, arbeitet hart und gilt als verlässlicher Kamerad. Doch Spannungen zwischen Herrligkoffer und Reinhold eskalieren. Reinhold sucht Freiheit in seinen Entscheidungen, der Expeditionsleiter fordert Disziplin. Günther steht dazwischen – loyal zu seinem Bruder, aber auch respektvoll gegenüber der Autorität.
Mitte Juni öffnet sich ein kurzes Wetterfenster. Reinhold entscheidet, sofort zum Gipfel aufzubrechen. Günther, obwohl weniger akklimatisiert und bereits erschöpft, folgt ihm. Es ist ein Akt brüderlicher Solidarität – eine Entscheidung, die später heftig kritisiert werden sollte.
Der Gipfel
Am 27. Juni 1970, nach stundenlangem Aufstieg in eisiger Kälte, erreichen die Brüder tatsächlich den 8.125 Meter hohen Gipfel des Nanga Parbat. Für einen Moment scheinen alle Strapazen vergessen. Doch die Freude ist kurz: Die Sonne sinkt, der Rückweg über die Rupalwand ist zu gefährlich.
Reinhold entscheidet, über die Westseite abzusteigen, die Diamir-Flanke. Ein unbekanntes Terrain, voller Spalten und Lawinenhänge. Der riskante Entschluss wird später zur zentralen Frage: War es ein genialer Überlebensplan – oder ein fataler Fehler?
Der letzte Abstieg
Mit der Dunkelheit sinkt die Temperatur rapide. Günther ist am Ende seiner Kräfte. Die fehlende Akklimatisierung, der lange Gipfeltag und die eisige Nacht ohne Schutz zehren an ihm. Berichte sprechen von langen Pausen, von einem Mann, der um jeden Schritt kämpfte.
Am Morgen des 28. Juni ringen die Brüder sich weiter durch. Doch Günthers Zustand verschlechtert sich dramatisch. Gegen Mittag verschwindet er – laut Reinhold wohl in einer Lawine oder einem Schneebrett. Zurück bleibt Reinhold, halb erblindet durch Schneeblindheit, orientierungslos und allein. Tage später erreicht er das Basislager. Ohne seinen Bruder.
Die Kontroverse
Kaum ist Reinhold zurück, beginnt ein Streit, der Jahrzehnte dauern sollte. Herrligkoffer wirft ihm vor, eigenmächtig gehandelt und Günther ins Verderben geführt zu haben. Reinhold betont, sie hätten nur versucht, schneller ins sichere Tal zu gelangen.
Die Presse stürzt sich auf die Geschichte. War es Übermut? Egoismus? Oder schieres Schicksal? Reinhold wird weltbekannt, aber auch angegriffen. Für viele ist er der große Abenteurer. Für andere der Bruder, der Günther zurückgelassen hat.
Späte Gewissheit?
35 Jahre später, 2005, werden auf der Diamirseite des Nanga Parbat menschliche Überreste gefunden. DNA-Analysen bestätigen: Es sind die sterblichen Überreste von Günther Messner. Damit scheint Reinholds Darstellung bestätigt – Günther kam tatsächlich beim Abstieg über die Westseite ums Leben.
Doch selbst dieser Fund beendet die Debatte nicht. Kritiker fragen weiterhin: Warum wählte Reinhold die riskante Route? Hätte Günther überlebt, wenn sie umgekehrt wären?
Vermächtnis
Heute gilt Günther Messner als Symbolfigur einer Tragödie, die weit über den Alpinismus hinaus Bedeutung hat. Er war nicht der Star, nicht der gefeierte Pionier – und doch bleibt sein Name untrennbar mit dem Nanga Parbat verbunden.
Für Reinhold ist es die größte Wunde seines Lebens. „Ich habe meinen Bruder verloren, und das wird immer in mir bleiben“, sagt er Jahre später.
Für die Bergsteigerwelt bleibt Günthers Tod Mahnung und Mythos zugleich: ein Beispiel für die unbarmherzige Härte der Berge – und für die unauflösbare Verbindung von Mut, Risiko und Schicksal.