Die Freiheit, die keine ist: Leonard Peltier enthüllt nach 49 Jahren Haft die bittere Wahrheit seines „neuen Gefängnisses“ und die schockierende Geschichte des ungebrochenen Widerstands.
Die Szene atmet eine trügerische Stille. Auf dem Turtle Mountain Indianerreservat in North Dakota sitzt ein Mann in seinem Wohnzimmer, umgeben von seinen eigenen Gemälden. Es ist der September, sein 81. Geburtstag liegt frisch hinter ihm. Fast fünfzig Jahre lang – exakt 49 Jahre und zwei Monate – kannte dieser Mann, Leonard Peltier, nur kalte Betonwände, eine dünne Decke und den beständigen Geruch von Abfall. Doch die Welt feierte, als er im Februar 2025, in den letzten Stunden der Amtszeit von Präsident Joe Biden, plötzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Die lebenslange Haftstrafe, die ihn zur globalen Ikone des indigenen Freiheitskampfes machte, war in Hausarrest umgewandelt worden. Es schien, als hätte die jahrzehntelange Kampagne von Stammesführern, Unterstützern, Friedensnobelpreisträgern und sogar Päpsten endlich gesiegt.
Doch die vermeintliche Erlösung von Leonard Peltier ist keine Geschichte der Gerechtigkeit, sondern eine Fortsetzung des Kampfes, lediglich auf einer neuen Bühne. In seinem ersten ausführlichen Fernseh- und Radiointerview seit seiner Freilassung beschreibt Peltier die erschütternde Realität, die hinter der glänzenden Fassade der Gnadenentscheidung steckt: „Ich wurde aus einer Gefängniszelle herausgenommen und wirklich in eine andere Art von Gefängnis gesteckt.“
Diese Worte hallen nach wie ein Schlag in die Magengrube. Sie sind die bittere Quintessenz einer über Generationen andauernden Konfrontation zwischen der indigenen Souveränität und der brutalen Macht des US-Staates. Die Geschichte von Leonard Peltier, einem Aktivisten der American Indian Movement (AIM), ist nicht nur die Chronik einer persönlichen Tragödie, sondern ein Lehrstück über politisch motivierte Verfolgung, juristische Verfehlungen und den unerschütterlichen Widerstand eines Mannes, der sich weigert, seine Überzeugungen zu verraten.

Der Preis der Kommutation: Ein goldener Käfig
Die Details seiner sogenannten „Freiheit“ sind kafkaesk. Peltier, der auf seinem angestammten Land lebt, unterliegt extrem restriktiven Auflagen. Er muss jeden Gang – sei es zum Postamt oder zum Einkaufen – bei seiner „Betreuerin“ anmelden. Reisen, die mehr als hundert Meilen über das Territorium seiner Nation hinausgehen, erfordern eine Genehmigung aus Washington D.C., selbst für dringend notwendige medizinische Behandlungen oder religiöse Zeremonien. Die Entlassung auf Bewährung, die ihm Biden am letzten Tag im Amt gewährte, war, so Peltier, ein politisch kalkulierter Schachzug.
Er beschreibt, wie hochrangige Vertreter der Native American Community und sogar Gefangene die Demokratische Partei vor einem „politischen Selbstmord“ warnten, sollte Biden das Gnadengesuch, das von praktisch allen Stammesnationen der Vereinigten Staaten, den Vereinten Nationen und globalen Führungspersönlichkeiten gefordert wurde, ignorieren. Die Freilassung war kein Akt der Reue, sondern ein hastiges Manöver, das den Druck der Weltöffentlichkeit kurz vor dem Amtsende abfangen sollte.
Für Peltier selbst kam die Nachricht seiner Freilassung als ein unglaublicher Moment. Er beschreibt das Verlassen des Coleman-Gefängnisses in Florida nach so vielen Jahren in einer Art Schockzustand und Unglauben: “Ich dachte, ich wache auf und das ist alles nur ein Traum”. Doch die anfängliche Erleichterung, nicht mehr in einer kalten Zelle mit nur einer Decke schlafen oder die Fäkalien seiner Zellennachbarn riechen zu müssen, ist von der kalten Erkenntnis verdrängt worden, dass er weiterhin überwacht und eingeschränkt wird. Sein Zuhause ist nun seine neue Zelle.
Das Geflecht der Lügen: Ein Unrechtsurteil
Um die ganze Tiefe des ihm zugefügten Unrechts zu verstehen, muss man zum Kern des Falles zurückkehren: dem Schusswechsel von Oglala auf der Pine Ridge Reservation im Jahr 1975. Bei der Auseinandersetzung zwischen AIM-Aktivisten und dem FBI wurden zwei FBI-Agenten und ein junger AIM-Aktivist getötet. Zwei andere AIM-Mitglieder, die ebenfalls angeklagt waren, wurden von einer Jury freigesprochen. Peltier jedoch, der separat vor Gericht gestellt wurde, erhielt eine lebenslange Haftstrafe.
Die Ungerechtigkeit seines Prozesses ist seit Jahrzehnten ein offenes Geheimnis. Unterstützer, darunter Ikonen wie Nelson Mandela und Mutter Teresa, prangerten das Vorgehen des FBI und der Staatsanwaltschaft an. Es gab Berichte über erzwungene Zeugenaussagen, gefälschte Beweismittel und die Unterdrückung von entlastenden Dokumenten. Eines der schockierendsten Details ist die Geschichte von Myrtle Poor Bear, einer indigenen Frau, deren erzwungene Aussage die Grundlage für Peltiers Auslieferung aus Kanada und seine Verurteilung bildete.
Myrtle Poor Bear sagte vor der Grand Jury aus, Peltier sei ihr Freund gewesen und sie sei Zeugin des Schusswechsels gewesen. Später gab sie jedoch zu, dass sie Peltier nicht kannte und während des Schusswechsels über 50 Meilen entfernt war. Sie hatte ihre ursprüngliche Aussage unter massivem Druck und Angst vor dem FBI gemacht.
Die wohl verheerendste Anklage gegen das Justizsystem kommt jedoch von einem seiner eigenen Vertreter: James Reynolds. Der ehemalige US-Staatsanwalt, der in den 1970er Jahren die Leitung der Strafverfolgung innehatte, vollzog vor etwa zehn Jahren eine moralische Kehrtwende. Reynolds schrieb an verschiedene Präsidenten und setzte sich für Peltiers Freilassung ein. Er erklärte öffentlich: „Es gibt keine Beweise dafür, dass Leonard Peltier auf diesem Reservat irgendein Verbrechen begangen hat“. Die Tatsache, dass der Mann, der einst für seine Verurteilung verantwortlich war, nun selbst zu seinem entschiedensten Fürsprecher wurde, entlarvt den Prozess als das, was er war: eine politische Verfolgung.
Trotz dieser erdrückenden Beweislage weigerte sich der Oberste Gerichtshof, Peltiers Fall anzuhören. Er wurde zu einem politischen Häftling, dessen Freilassung stets von der unheimlichen Macht des FBI und anderer Behörden blockiert wurde.

Die Wurzeln des Widerstands: Von Internaten bis Wounded Knee
Um zu verstehen, warum Peltier selbst in einem „goldenen Käfig“ seine Integrität nicht aufgibt, muss man die Ursprünge seiner Radikalisierung als Aktivist verstehen. Peltier wurde in die Hände eines Systems geboren, dessen Ziel es war, die indigenen Völker auszulöschen.
Er wurde nach der traditionellen Sitte seiner Chippewa- und Lakota-Völker hauptsächlich von seinen Großeltern aufgezogen. Doch als sein Großvater starb, suchte seine Großmutter Hilfe bei der Regierungsbehörde. Die Reaktion des Staates war brutal: Im Jahr 1953 wurde der neunjährige Leonard in das Wahpeton Boarding School in North Dakota verschleppt. Peltier beschreibt dieses Internat als seine „erste Inhaftierung“.
Die Bedingungen waren extrem brutal. Das Ziel der Schulen, so Peltier, war es, „den Indianer aus dem Indianer herauszuholen“. Den Kindern wurde das Haar abgeschnitten, sie wurden mit dem giftigen Pestizid DDT übergossen, und es wurde ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. Schläge waren an der Tagesordnung. Er schloss sich sofort den „Widerständlern“ an, einer Gruppe von Jungen, die sich hinter der Turnhalle trafen, um heimlich ihre Sprache zu sprechen und Gebete zu singen. Die strenge Disziplin dort war, so erinnert er sich, restriktiver als die in den späteren Bundesgefängnissen.
Nach seiner Rückkehr in die Armut auf dem Land seines Vaters erlebte er den nächsten Angriff auf die Existenz seiner Nation: 1958 stand die Turtle Mountain Band of Chippewa auf der Liste der Stämme, die durch die Bundespolitik der „Termination“ ausgelöscht werden sollten. Die Regierung entzog die finanzielle Unterstützung und Versorgung, um die Menschen auszuhungern. Nachdem ein kleines Mädchen an Unterernährung gestorben war, eskalierte der Zorn der älteren Generation – eine Rebellion brach aus, die zur Umkehrung der Entscheidung der Behörden führte.
Dieser frühe Widerstand war die Wiege der Red Power-Bewegung. Peltier wurde Teil des American Indian Movement (AIM), die sich nicht nur gegen Ungerechtigkeiten wie die Fischerei- und Jagdrecht-Konflikte im Westen zur Wehr setzte, sondern auch die Aufmerksamkeit auf die gebrochenen Versprechen des Staates lenkte. Er war 1972 Mitorganisator des „Trail of Broken Treaties“ (Pfad der gebrochenen Verträge), eine Anspielung auf den „Trail of Tears“, der direkt nach Washington führte, um die Einhaltung der Verträge einzufordern.
Die endgültige Konfrontation fand 1973 in Wounded Knee statt. Nach Jahren falscher Versprechen und der „Terrorherrschaft“ von Goon-Squads, die vom Stammespräsidenten Dick Wilson organisiert und vom FBI mit Waffen und Geheimdienstinformationen versorgt wurden, beschlossen die Ältesten von Oglala, die AIM zur Besetzung einzuladen. Die Reaktion des US-Staates war ein militärisches Trommelfeuer: eine 71-tägige Belagerung, bei der F-4 Phantom Jets und das US-Militär zum Einsatz kamen. Peltier beschreibt, wie Nixon die 82. Luftlandedivision beorderte, die Aktivisten auszulöschen, falls sie als „Kommunisten“ eingestuft würden. Nur ein Gerichtsverfahren, das zur Freigabe von Dokumenten führte, enthüllte die illegalen Waffenlagerungen der Regierung und verhinderte das Schlimmste.

Wut als Treibstoff: Der unbeugsame Geist
Was hält einen Mann am Leben, der fast sein gesamtes Erwachsenenleben in Ketten verbracht hat und nun, selbst in seiner „Freiheit“, noch immer gefesselt ist?
Peltiers Antwort ist überraschend und tiefgründig: „Was mich wirklich stark gehalten hat, war meine Wut. Ich war extrem wütend darüber, was sie mir und meinem Volk angetan haben, und ich bin immer noch sehr, sehr wütend.“
Diese Wut war keine destruktive Kraft, sondern der Treibstoff für seinen ungebrochenen Widerstand. Er erzählt, wie ihm mehrmals die Freilassung angeboten wurde – unter der Bedingung, dass er die Verantwortung für die ihm zur Last gelegten Verbrechen akzeptiert und negative Aussagen über die Vergangenheit der US-Regierung gegenüber den indigenen Nationen widerruft. Er lehnte jedes Mal ab. „Für mich ist das Verrat an meiner Nation, meinem Volk“. Er zieht es vor, mit seinen Überzeugungen zu sterben, als sich seinen Peinigern zu beugen.
Sein Überlebensmechanismus im Gefängnis war die Kunst. In dem Hobby- und Kunstraum der Haftanstalt wurde er zu einem bekannten Maler, dessen Werke in New York ausgestellt werden sollten. Doch selbst dieser letzte Trost wurde ihm genommen: Vor wenigen Monaten verlor er 80 Prozent seiner Sehkraft. Er sitzt nun in seinem Haus, umgeben von Gemälden, die er nicht mehr vollständig sehen kann.
Trotz seiner physischen und juristischen Fesseln blickt Peltier mit Hoffnung auf die junge Generation. Er spricht über seine elfjährige Urenkelin, eine Schwimm-Meisterin, die ihm erzählte, dass sie ihre olympische Medaille ihm widmen würde, um zu verkünden, dass er „illegal ins Gefängnis gesteckt wurde“. Dieses unerschrockene Engagement der Jugend, das auch in der globalen Klimabewegung (Stichwort Standing Rock) sichtbar wird, ist sein Vermächtnis.
Der Kampf, so stellt er klar, ist nicht vorbei. Er ist eine existenzielle Bedrohung: „Wir leben immer noch unter der Angst, unsere Identität, unsere Kultur, unsere Religion zu verlieren, wenn uns unsere Verträge weggenommen werden“.
Leonard Peltier hat seine physischen Mauern verlassen, aber er bleibt ein Häftling der amerikanischen Geschichte und ein lebendiges Symbol für das anhaltende Versagen des Justizsystems. Seine Botschaft an die Welt ist klar und unbeugsam: „Ich habe mich nicht ergeben. Ich werde nicht aufgeben.“ Solange die Verträge und die Souveränität der indigenen Nationen in Gefahr sind, wird der Kampf des ungebrochenen Mannes im „neuen Gefängnis“ weitergehen.