Die letzte Choreografie: Wie Schlaganfälle und tiefe Depressionen die Kessler-Zwillinge in den assistierten Suizid trieben – und warum ihr Abschied ein stilles Meisterwerk der Verbundenheit war
Die Nachricht vom 17. November traf Deutschland wie ein Blitzschlag: Die Kessler-Zwillinge Alice und Ellen, Ikonen der Eleganz und Symbol einer unzertrennlichen Lebensgemeinschaft, waren gemeinsam aus dem Leben geschieden. Im Alter von 89 Jahren hatten sie sich für einen assistierten Suizid entschieden. Die erste Meldung war knapp, die offizielle Begründung schien vordergründig – ein gemeinsamer, selbstbestimmter letzter Akt. Doch hinter dieser öffentlichen Fassade verbarg sich eine tiefere, herzzerreißende Tragödie, deren wahres Ausmaß erst jetzt ans Licht kommt. Die Enthüllungen zeichnen das Bild eines stillen, minutiös geplanten Abschieds, der weit über den Wunsch nach einem gemeinsamen Ende hinausgeht und die Geschichte einer schweren, bislang unbekannten Krankheit erzählt.
Für viele Beobachter war der Entschluss der „Kessler-Girls“ zunächst ein Rätsel. Alice und Ellen waren bis zuletzt in der Öffentlichkeit präsent, wirkten bei Auftritten zwar gealtert, aber mental wach und ungebrochen in ihrem gemeinsamen Geist. Schwere Krankheiten, die eine derart radikale Entscheidung rechtfertigen würden, waren nie öffentlich zur Sprache gekommen. Die Spekulationen drehten sich um den Wunsch, den unausweichlichen Verfall des Alters zu vermeiden und die lebenslange Verbundenheit bis in den Tod zu konservieren.
Die Stille nach ihrem Tod wurde nun von einer Frau gebrochen, deren Worte die gesamte Erzählung auf eine zutiefst menschliche und emotionale Ebene heben: Gabriele Gräfin zu Kastellrüdenhausen, eine Freundin, die die Zwillinge seit unglaublichen fünf Jahrzehnten begleitete. Ihre Offenbarungen sind schockierend und spenden zugleich ein tiefes Verständnis für den gemeinsamen letzten Schritt. Sie enthüllte, dass hinter der Fassade der ewigen Eleganz und Unzertrennlichkeit eine schwere gesundheitliche Bürde lag, die vor allem Ellen in den letzten Monaten zusehends gezeichnet hatte.

Die verborgene Bürde: Schlaganfälle und die dunkle Welle der Depression
„Von schweren Krankheiten war bisher nie die Rede“, wird in den ersten Berichten betont. Genau dies machte die Nachricht so irritierend. Doch Gabriele Gräfin zu Kastellrüdenhausen enthüllt nun das dramatische Detail: Ellen Kessler war gesundheitlich schwer angeschlagen. Sie litt unter einem Schlaganfall, hatte Herzprobleme und, was besonders schwer wiegt und der Tragik eine zusätzliche Tiefe verleiht, sie kämpfte mit tiefen, anhaltenden Depressionen.
Diese Informationen ändern die Perspektive grundlegend. Die Entscheidung für den assistierten Suizid war demnach nicht nur ein romantischer Pakt zweier Schwestern, um dem Alter zu trotzen. Sie war vielmehr die Folge eines unerträglichen, schleichenden Leidensweges, den Ellen nicht mehr alleine weitergehen konnte oder wollte. Die Depression, oft eine unsichtbare und von der Öffentlichkeit unterschätzte Krankheit, muss bei einer Persönlichkeit, die ihr Leben der Leichtigkeit und dem Tanz gewidmet hatte, eine besonders grausame Wunde hinterlassen haben.
Alice hingegen wirkte stabiler, „älter natürlich, aber noch gut beisammen“, so die Gräfin. Hier entfaltet sich der Kern der tragischen Geschichte: Alice hätte vielleicht noch länger leben können. Doch die Idee, ohne ihre ewige Gefährtin den Rest des Weges zurücklegen zu müssen, die Vorstellung, die Schwester an ein schweres Leiden zu verlieren und alleine zurückzubleiben, muss für sie unerträglich gewesen sein. Die unauflösliche Loyalität triumphierte über das individuelle Überleben. Ihr Entschluss, an Ellens Seite zu gehen, war der ultimative Beweis ihrer legendären Verbundenheit. Ein Leben lang waren sie verschmolzen – beruflich, privat und emotional. Es ist der letzte, größte Akt der Liebe und Selbstaufgabe, dass sie auch ihren Abschied gemeinsam planten.
Der stille, minutiöse Abschied: Päckchen im Briefkasten
Was die Geschichte der Kessler-Zwillinge besonders erschütternd macht, ist die minutiöse Planung ihres Abschieds. Es war keine spontane Entscheidung, sondern eine sorgfältig inszenierte “letzte Choreografie”, die ihrer gemeinsamen Ästhetik und ihrem Sinn für Dramatik entsprach, aber ohne jede öffentliche Geste oder mediale Inszenierung auskam.
Kurz vor ihrem Tod besuchten sie ihre engsten Vertrauten. Es gab keine großen Worte, keine dramatischen Gesten, die auf das bevorstehende Ende hingewiesen hätten. Sie taten, was Geschwister und Freunde in ihrem Alter oft tun: Sie verbrachten Zeit miteinander, im Wissen, dass die Zeit begrenzt ist, doch ohne die schockierende Wahrheit auszusprechen. Genau diese Stille macht das Erlebnis für die Zurückgebliebenen so schmerzhaft. Gabriele Gräfin zu Kastellrüdenhausen bemerkte leise Veränderungen, besonders bei Ellen, die sie zuletzt nur noch „liebevoll ansah, ohne Worte – ein stiller Blick, der alles sagte und gleichzeitig nichts verriet“.
Am Tag nach ihrem Tod fanden Freunde und Vertraute jedoch in ihren Briefkästen kleine, versiegelte Päckchen. Diese Pakete enthielten nicht nur Andenken wie Schmuckstücke und Erinnerungsstücke, sondern auch handgeschriebene Abschiedsbriefe. Die Aufschrift auf jedem Paket wirkte fast wie aus einem Film, eine letzte, präzise Anweisung: „Nicht vor dem 18. November öffnen“.
Diese Geste ist von einer unbegreiflichen emotionalen Wucht. Die Zwillinge schützten ihre Freunde bis zur letzten Minute vor dem Schock. Sie gaben ihnen einen Tag des ungestörten Gedenkens, bevor die volle Realität eintreten sollte. Sie nahmen den Schmerz des unmittelbaren Abschieds und der letzten Konfrontation mit ihrer Entscheidung auf sich, um ihren Liebsten die Möglichkeit eines stillen, unbefangenen letzten Treffens zu schenken. Es ist ein Akt von unglaublicher Fürsorge und Kontrolle über ihr eigenes Narrativ.

„Es zerreißt mir das Herz“: Der Schmerz der Zurückgebliebenen
Für die Freundin Gabriele ist die Erinnerung an diese letzten Begegnungen zutiefst schmerzhaft. Sie erzählt mit hörbarer Leere in der Stimme: „Ich wusste nicht, dass es das letzte Mal war, dass ich die Mädels sehe“. Dieser Satz fasst die Tragödie der stillen Abschiede zusammen. Es gab keine letzte Umarmung, die bewusst als solche erkannt wurde, keinen finalen Hinweis. Nur der „stille Blick“, der nun in der Rückschau alles verrät.
Der Schmerz, der in Gabrielas Worten mitschwingt – „Es zerreißt mir das Herz“ – spiegelt die Trauer einer gesamten Generation wider, die in den Kessler-Zwillingen ein Symbol für Glamour, Eleganz und eine scheinbar unbesiegbare Lebensfreude sah. Das Ende ihres Lebens ist ein dunkler Kontrapunkt zu der Leichtigkeit, mit der sie einst tanzend über die Bühnen Europas schwebten. Die Enthüllungen über Ellens Depressionen zeigen, dass auch hinter den strahlendsten Fassaden tiefe menschliche Zerbrechlichkeit existieren kann.
Die Art und Weise, wie die Zwillinge ihr Ende inszenierten, spricht Bände über ihren Charakter und ihre Beziehung. Sie gingen nicht nur zusammen in den Tod, sie sorgten auch dafür, dass ihre physische Trennung niemals stattfinden würde.

Das letzte Vermächtnis: Eine Urne, zwei Schwestern
Die Kessler-Zwillinge taten alles, um die ewige Einheit zu garantieren. In ihrem Testament bestimmten sie, dass ihre Aschen in einer einzigen Urne ruhen sollen. Dies ist weit mehr als nur eine logistische Anweisung; es ist das finale, unauflösliche Bekenntnis zu ihrem gemeinsamen Leben. Sie wurden zusammen geboren, sie teilten eine beispiellose Karriere, sie lebten in unzertrennlicher Nähe und sie wollten auch im Tod vereint bleiben.
Die Worte, die sie einst in einem älteren Brief niederschrieben, wirken heute wie eine Vorwegnahme ihres Schicksals: „Wir sind zusammen auf die Welt gekommen und wir werden sie gemeinsam verlassen“. Dieser Satz hat nun eine Gänsehaut bereitende, unheimliche Realität angenommen. Er manifestiert ihren Lebenspakt und die radikale Konsequenz, mit der sie ihn bis zum Ende erfüllten.
Ihr gemeinsamer Tod im Rahmen des assistierten Suizids ist in der öffentlichen Diskussion stets ein kontroverses Thema. Die Kessler-Zwillinge haben mit ihrem Vorgehen nicht nur ein privates, sondern auch ein gesellschaftliches Statement gesetzt: Es geht um das Recht auf Selbstbestimmung, auch angesichts von Krankheit und Alter. Ihre Entscheidung wird zweifellos die Debatten über die ethischen Grenzen der Sterbehilfe neu befeuern. Während einige ihren Schritt als mutig und konsequent bezeichnen, empfinden andere ihn als zutiefst tragisch und verstörend.
Doch eines ist unbestreitbar: Nichts an diesem Abschied war zufällig. Von der Wahl des Zeitpunkts und der Methode bis hin zur stillen, eleganten Verabschiedung von ihren Freunden und der letztwilligen Verfügung über ihre Asche – alles zeugt von einer letzten, bewussten Entscheidung, die ihrem gemeinsamen Leben die Krone aufsetzte.
Was bleibt, ist die Erinnerung an zwei Frauen, die die Unterhaltungsbühnen mit ihrem Charme eroberten und die nun im Angesicht des Todes eine letzte, bewegende Vorstellung lieferten: eine unzertrennliche Bindung, die selbst die Endlichkeit besiegte. Es ist der letzte, stille Moment zweier Schwestern, die sich selbst im Tod nicht loslassen wollten. Und es ist die traurige Gewissheit, dass hinter der strahlenden Legende von Alice und Ellen Kessler auch eine dunkle Geschichte von Krankheit, Leiden und der tiefen Sehnsucht nach Frieden steckte.
Die Kessler-Zwillinge sind gegangen, aber ihre Geschichte, bereichert um diese neuen, emotionalen Details, wird bleiben. Sie ist nicht nur die Geschichte zweier Tänzerinnen, sondern das Drama einer außergewöhnlichen menschlichen Verbindung, die uns alle dazu zwingt, über die wahre Bedeutung von Loyalität, Leiden und dem selbstbestimmten Ende nachzudenken.