Die Stille in der Seniorenresidenz des Berner Bürgerspitals ist an manchen Tagen lauter als jeder Applaus, den sie je erhalten hat. Für Lilo Pulver, die strahlende Ikone des deutschsprachigen Films, deren Lachen einst ganze Kinosäle erfüllte, sind die Tage leiser geworden. Mit 94 Jahren hat das Leben ihr eine letzte, schmerzhafte Prüfung auferlegt: den Verlust ihres engsten Freundes und Vertrauten, Tedi Kremer. Ein Schlag, der die ohnehin schon von Schicksalsschlägen gezeichnete Seele der Schauspielerin bis ins Mark erschüttert und sie in eine tiefe Einsamkeit stürzt.
Liselotte Pulver, geboren am 11. Oktober 1929, war mehr als nur eine Schauspielerin. Sie war ein Phänomen, ein Wirbelwind aus Charme, Witz und unbändiger Lebensfreude. Ab den 1950er-Jahren eroberte sie die Herzen des Publikums im Sturm. Filme wie „Ich denke oft an Piroschka“, „Die Zürcher Verlobung“ oder Billy Wilders „Eins, Zwei, Drei“ machten sie zu einem internationalen Star. Ihr ansteckendes Lachen wurde zu ihrem Markenzeichen, einem Symbol für den Optimismus und die Leichtigkeit der Nachkriegszeit. Doch hinter der strahlenden Fassade der „Lilo“ verbarg sich ein Leben, das von tiefen Schatten und unvorstellbarem Schmerz durchzogen war.
Die Liste der Verluste in ihrem Leben ist lang und herzzerreißend. Jeder Abschied hinterließ eine Narbe, die nie ganz verheilte. Der wohl grausamste Schlag traf sie, als ihre Tochter Melisande sich im Alter von nur 21 Jahren das Leben nahm. Ein Schmerz, den eine Mutter nie überwindet, eine Wunde, die für immer offenbleibt. Später musste sie ihren geliebten Ehemann, den Schauspieler Helmut Schmid, nach 67 gemeinsamen Jahren gehen lassen. Ein weiterer Anker in ihrem Leben war plötzlich nicht mehr da. Vor wenigen Jahren verstarb auch ihre ältere Schwester Corinne im Alter von 96 Jahren. Jeder dieser Abschiede nahm ein Stück von ihr mit.
Doch Lilo Pulver bewies immer wieder eine fast übermenschliche Stärke. Selbst als bei ihr das lobuläre Karzinom in situ, eine seltene Form von Brustkrebs, diagnostiziert wurde, gab sie nicht auf. Sie stellte sich dem Kampf mit einer bewundernswerten Widerstandsfähigkeit und einem Optimismus, der für viele zu einer Quelle der Inspiration wurde. Sie besiegte die Krankheit und bewies, dass ihr Lebenswille stärker war als jede Diagnose. Doch gegen den Tod, diesen unerbittlichen Feind, war auch sie machtlos. Und er sollte noch einmal zuschlagen.
In den letzten Jahren war es Tedi Kremer, der ihr Halt und Freude schenkte. Der 92-jährige Freund zog vor einiger Zeit ebenfalls in die Seniorenresidenz und wurde zu ihrem engsten Vertrauten. Er war nicht nur ein Kollege, sondern ein Seelenverwandter. Seine Anwesenheit war ein Balsam für ihre Seele. Seine Freundlichkeit, seine scharfsinnige Beobachtungsgabe und seine emotionale Intelligenz schufen eine Atmosphäre der Wärme und des Vertrauens. Die gemeinsamen Abende, gefüllt mit Gesprächen, Lachen und dem Austausch von Erinnerungen, wurden zum wichtigsten Ritual in Lilos Alltag.
„Er war mein Fels in der Brandung“, soll sie Freunden anvertraut haben. Mit ihm konnte sie über alles reden – über die glorreichen Tage ihrer Karriere, die unvergesslichen Momente, aber auch über die tiefen Wunden, die das Leben ihr zugefügt hatte. Er verstand sie ohne viele Worte. Ihre Freundschaft war ein stilles Einverständnis zweier Menschen, die ein langes, erfülltes, aber auch schmerzhaftes Leben hinter sich hatten. Sein plötzlicher Tod riss ein Loch in ihr Herz, das nichts und niemand mehr füllen kann. Der letzte Mensch, der ihre Welt in all ihren Facetten kannte, ist nun fort.
Die Leere, die Tedi Kremer hinterlässt, ist für Lilo Pulver erdrückend. Die gemeinsamen Abende sind nun von einer ohrenbetäubenden Stille erfüllt. Die Gespräche sind verstummt. Das Lachen, das einst ihr Markenzeichen war, ist einer tiefen Melancholie gewichen. Freunde und Wegbegleiter machen sich große Sorgen um die Grande Dame des Films. Sie, die immer für andere ein Leuchtfeuer der Hoffnung war, scheint nun selbst im Dunkeln zu stehen. Ihr angeborener Optimismus kämpft gegen die Übermacht der Trauer.
Es ist eine tragische Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ihr Lachen, diese Quelle der Freude für Millionen, in ihrer eigenen Kindheit oft bestraft wurde. Lehrer sahen ihre ansteckende Fröhlichkeit als Störung des Unterrichts und schickten sie regelmäßig vor die Tür. Doch sie ließ sich ihre Lebensfreude nicht nehmen. Diese innere Kraft, dieser unerschütterliche Glaube an das Gute, trug sie durch alle Höhen und Tiefen. Heute, im Angesicht des ultimativen Verlustes, wird diese Kraft auf ihre härteste Probe gestellt.
Lilo Pulver ist mehr als nur eine Legende der Leinwand. Sie ist ein Symbol für Stärke, für den Mut, immer wieder aufzustehen, egal wie hart das Leben zuschlägt. Ihr Weg ist ein Zeugnis dafür, dass auch hinter dem strahlendsten Lächeln die tiefsten Abgründe lauern können. Während Fans und Kollegen ihre Unterstützung bekunden, muss sie diesen letzten, einsamen Kampf mit sich selbst ausfechten. Der Vorhang ist für sie noch nicht gefallen, doch die Rolle, die das Leben ihr nun zugedacht hat, ist die schwerste ihrer gesamten Karriere: die einer Überlebenden, die lernen muss, mit der Stille zu leben. Die Welt hofft und betet, dass sie irgendwo in sich die Kraft findet, eines Tages wieder ein leises Lächeln zu wagen – ein Lächeln für Tedi, für ihre Familie und für sich selbst.