Letzter Akt voller Rätsel: Warum Carl Hegemann in der Volksbühne plötzlich zum Hörer greift – Ein Abschied, der mehr Fragen stellt als beantwortet, und ein Telefonat, das alles verändert. Was steckt wirklich hinter seinem geheimnisvollen Abgang von der Bühne?
Die Theatergemeinde gibt trauernd, lächelnd und unerschrocken ein Abschiedsfest für einen ihrer wichtigsten und lustigsten Mitdenker: Adé, Carl Hegemann.
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Theaterlegende
Immer Totaltheater – aber nie ein Fachmann: Carl HegemannMatthias Horn
Eigentlich hätte Carl Hegemann jetzt in Spanien sein sollen, lesen und baden, dort, wo er jedes Jahr den Autor Navid Kermani und seine Familie besuchte und lauter Dinge tat, mit Neugier und Freude, um die sich die anderen Erwachsenen gern drückten: die Mutter zum Aldi begleiten und die Kinder in den Aquapark. In einem Text für das Büchlein „Everyday Live“, das Hegemanns Tochter Helene Hegemann und seine Gefährtin Janine Ortiz zum Abschiedsabend in der Volksbühne herausgebracht haben, schreibt Kermani darüber, was ihm die Kinder vom Spaßbadbesuch erzählten.
Da soll der zu Ehrende halbtot vor Erschöpfung und Aufregung, aber auch beseelt und stolz ans Ufer oder an den Beckenrand getreten sein und verkündet haben: So, das war jetzt die letzte Wasserrutsche meines Lebens. Der Stolz war angebracht, die Aufregung wird nicht gespielt gewesen sein, denn es war die höchste Wasserrutsche an der gesamten Costa Brava, und Carl Hegemann schon Mitte Siebzig. Vielleicht hätte er es sich in diesem Sommer doch noch einmal überlegt? Sicher ist, dass er am Donnerstag wieder in Berlin gewesen wäre, in der Waldbühne, bei Neil Young, zweite Reihe links. Konjunktiv.
Im Indikativ ist Carl Hegemann aber eben nicht mehr da, sondern tot, gestorben am 9. Mai an einem Herzinfarkt, mitten aus dem Leben gerissen, wie es heißt, buchstäblich aus einem Netz von Kontakten, Gesprächen, Projekten und Verabredungen, die nun alle geplatzt sind. Und während die verwaiste Volksbühnengemeinde und viele mehr Abschied am Rosa-Luxemburg-Platz von ihm nehmen, liegt er schon in seinem kühlen Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Oder ist er doch im Himmel?
An diesem Abend wird er sogar angerufen, über ein rotes Plüschtelefon mit Wählscheibe – aus der Volksbühnenrequisite. Tatsächlich, er geht ran, und wie immer gibt er erst einmal zu Bedenken, dass es zwar nett sei, ihn zu fragen, dass er aber kein Fachmann sei. Sonst kam das Gespräch nach dieser bescheidenen Einschränkung erst richtig in Schwung. Diesmal aber, also da im Himmel, wo sich alle Widersprüche auflösen, bleibt er ziemlich wortkarg. Man habe ihn direkt aus der Arbeit gerissen. Sagt er in der schönen Freundlichkeit – und legt als erster auf. Okay, Carl, das ist neu.
Eine knappe Stunde zu spät geht der Abend in der Volksbühne los, dann aber richtig, mit einer von Hegemanns Lieblingsbands, den Doors, gecovert von der Volksbühnengalionsfigur Silvia Rieger und der sehr lauten Band L.E.K.N.: „When the music’s over – turn out the lights“. Mit markschmelzendem Kreischen und netzhautversengendem Blendlicht. Sehr schmerzhaft. Sehr gut schmerzhaft. Seelisch, wegen der Trauer, aber auch körperlich, wegen der überreizten Sinneszellen, die im Hirn Alarm schlagen, weil sie gerade in tausend Stücke zerspringen und einen daran erinnern, dass die Trennung von Körper und Seele Quatsch ist.
Dann rennt der Schauspieler Mirco Kreibich gegen die Wand, fällt tot um, greift zur Axt, hackt die Bühne auf, wühlt sich durch die inneren Organe des Theaters und seine Maschinerie immer tiefer, sodass die Erdbrocken ins Parkett spritzen. Damit sind wir schon bei einem der Leitsprüche von Carl Hegemann, der auch ein Philosoph der Claims gewesen ist: „Erobert euer Grab“.
Karin Neuhäuser tritt auf und wirft ein paar Sonnenblumen hinein, um dann zur Textarbeit zu schreiten, und das ist wirklich gut, lohnend und angemessen. Denn das wird Carl Hegemann freuen, schließlich liebte er seine Texte und zitierte daraus, nie ganz sicher aus welchen genau, aber dies auf eine Weise, dass man beim Zuhören, obwohl man ja bei der Lektüre auch schon begeistert gewesen war, nur vielleicht gerade nicht so konzentriert und ohne ausreichend aufnahmefähiges Gedächtnis, den Gedanken unbedingt noch einmal nachlesen wollte. Um nicht nur einfach so zuzustimmen, weil es Spaß machte, Carl Hegemann zuzustimmen, sondern aus Kenntnis.