Schock-Moment beim Lollapalooza in Berlin: Justin Timberlake kämpft gegen sintflutartigen Regen – Konzert droht zu scheitern, Fans völlig durchnässt, Bühne unter Wasser! Was wirklich hinter dem Wetter-Drama steckt, sorgt jetzt für wilde Spekulationen
Gracie Abrams, The Last Dinner Party, Ritter Lean und Justin Timberlake: Zum Auftakt des Lollapalooza-Festivals besuchten tausende Fans am Samstag das Berliner Olympiagelände.
Willkürliches Line-up, eine konkurrierende Technoparade und Dauerregen. Die Voraussetzungen für ein gelingendes Festival-Wochenende sind denkbar schlecht. Ändern kann man das an diesem Samstagmorgen aber auch nicht mehr. Ebensowenig wie die Tatsache, dass das Lollapalooza zum zehnjährigen Jubiläum längst nicht ausverkauft ist.
Gegen zwölf Uhr mittags, seit einer Stunde läuft der Einlass auf dem Olympiagelände, sind die Flächen vor den vier großen Bühnen mehr oder weniger leer. Es kann nur besser werden. Irgendwann. Ab Nachmittag dann.
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Bis dahin gilt es, in jeder Hinsicht trocken zu bleiben. Hätte der angekündigte Jahrhundertsommer schon gestartet, könnte man meinen, man wäre auf dem kalifornischen Coachella, oder auf dem katalanischen Primavera – so aufwändig herausgeputzt haben sich viele der Gäste. Glitzer im Gesicht, Cowboy-Stiefel an den Füßen, Federn im Haar. Jetzt ist es aber nun mal nass und grau, die schöne Kostümierung mit schützendem Plastik verhüllt.
Apropos Fashion: Unzählige Lifestyle-Marken haben sich hier eingerichtet. Begleitet von Influencer-Entouragen, verbreiten sie mit allerlei Geschenken und Glücksspielen gute Stimmung vor der kleinen „Fashion Palooza“-Bühne, auf der Models bibbernd „Fashion“ präsentieren. Daneben verlost ein Gartenschuh-Hersteller mit Mode-Anspruch neue Modelle. Dass sich hier eine Schlange gebildet hat, spricht für sich. Ein gewisser Avaion aus dem bayerischen Fürth musiziert auf der „Perry’s Stage“ im Olympiastadion TikTok-Schlager, während der schwedische Sänger Benjamin Ingrosso sein Glück auf einer der zwei Hauptbühnen versucht.
Etwas mehr als 50.000 Gäste erwartet der Veranstalter an beiden Tagen. Das sind rund 10.000 weniger als noch vor zwei Jahren. Die Gründe dafür sind wohl ebenso mannigfaltig wie das Programm. Während in den Anfangsjahren, ab 2015, noch Weltstars wie The Weeknd oder Dua Lipa auf dem Berliner Ableger des Festivals auftraten, wurde das Line-up mit der Zeit immer schwächer. Vor zwei Jahren waren Macklemore und Jason Derulo Headliner. Im vergangenen Jahr war es Shirin David.
Feuchte Träume und schmutzige Geheimnisse
Ab 16 Uhr ungefähr ist das Stadion erstmals zu knapp einem Drittel gefüllt. Der Rambazba-EDM-Musiker Bunt dreht mit „Put your Hands up in the Air“-Gesten richtig auf. Es regnet gerade nicht und seine Bemühungen haben Erfolg. Begleitet wird der mehr oder weniger Alleinunterhalter nur von zwei Doubles, die mit großen Kameras ihn oder die Menge filmen. Das Ephemere wird hinter dem DJ-Pult auf Leinwand projiziert: Die Collagen der tanzenden Menschen in schwarz-weiß und mit Beat-entsprechender Wackeloptik, lassen das Stadion tatsächlich rappelvoll aussehen.
Das hat Artemas, der ein bisschen später, aber parallel zu Bunt, auf der südlichen Hauptbühne zu musizieren beginnt, nicht nötig. Sein Konzert ist wirklich gut besucht. Trotzdem ist bei ihm deutlich weniger Party. Der sogenannte „Alternative Pop-Rocker“, mit schmalziger Säusel-Stimme lädt die jungen, größtenteils weiblichen Fans zum Schmachten ein.
Immerhin, sein Lied „I Like The Way You Kiss Me“ war im Frühjahr 2024 der meistgestreamte Song der Welt – auch dank TikTok, auf der Plattform ging er damit viral. Ähnlich wie jener sogar tanzbare Hit sind auch seine folgenden Lieder recht schlüpfrig. Bei Artemas geht es um feuchte Träume und schmutzige Geheimnisse. Das trägt er in Berlin in Billie Eilish-Manier vor. Wenn der 25-Jährige dann „said you needed love, but you’re only here for sex“ ins Mikrophon haucht, kann er selbst nicht so ganz ernst bleiben. Ein schummriger Clubraum wäre naheliegender, als eine matschige Festival-Wiese.
Spenden für „Palestine“
18 Uhr. Auftakt, erster Höhepunkt: The Last Dinner Party. Die fünfköpfige, rein weibliche Baroque Pop und Alternative Rock Band, musikalisch irgendwo zwischen Fleetwood Mac, Grimes und Lana Del Rey verortet, passt schon viel besser zum Wetter: leichter Sprühregen. Bierernst tragen sie ihre Lieder vor, allein Lead-Sängerin Abigail Morris hüpft dabei Florence Welch gleich, im weißen Flatterkleid, vor, zurück, von rechts nach links.
Den Sound ihres Debütalbums „Prelude to Ecstasy“ (2024), der vor allem durch seine beeindruckende Vielschichtigkeit besticht, reproduzieren sie live fast eins zu eins. Zwischendurch greift Lead-Gitarristin Emily Roberts zur Querflöte oder Mandoline, mit bis zu fünf Stimmen singen sie in Harmonie. Gesanglich eine Naturgewalt.
Irgendwann, zur Halbzeit ihrer einstündigen Einlage, können es The Last Dinner Party nicht lassen, über „Palestine“ zu sprechen, so sagen sie. Normalerweise würde sie bei ihren Konzerten ja einen QR-Code einblenden, über den man dann an die Organisation ihrer Wahl spenden könne, das wäre hier aber nicht möglich. Wer sich aber ein Bier leisten könnte, der könne sich auch anderweitig irgendwie einsetzten, so die Botschaft. Politischer wird es nicht. Mindestens die Fans in den vorderen Reihen kreischen glücklich. Mission erfüllt. Auch der Wilmersdorfer „Atze“ Ritter Lean hat eine Botschaft: „Ich hab mies ADHS!“. Vor der kleineren „Alternative Stage“ freuen sich sehr viele sehr junge Berliner auf den Auftritt des besten Freundes von Ski Aggu.
Die Auftritte der beiden folgenden Besuchermagneten, die K-Pop Band Ive und die US-Newcomerin Gracie Abrams, die kurz hintereinander auf den beiden Hauptbühnen spielen, lassen sich in ihrer Unterschiedlichkeit recht gut zusammenfassen. Bei der sechsköpfigen Girl-Band aus Korea sitzt jede Bewegung, die Choreografie, bis hin zur obligatorischen Liebesbekundung an das Berliner Publikum ist bis zur Perfektion einstudiert. Das Wetter spielt auch mit, bei Ive bleibt es trocken.
Abrams derweil gibt sich nahbar, erzählt und spricht viel, scheint emotional recht betrübt und beherrscht die Akustikgitarre. In Sachen performativer Natürlichkeit eifert sie gekonnt ihrem großen Vorbild Taylor Swift nach. Pünktlich zu ihrem Mega-Hit „That’s So True“, fängt es gegen 20.30 Uhr wieder leicht an zu regnen. Zum Dahinschmelzen.
Ein wohliges Gefühl von Weltfrieden
Dann, endlich, der Rausschmeißer: Justin Timberlake. Knapp zwei Stunden lang soll der Popstar das heutige Programm als oberster Headliner abschließen. Der in der Pop-kulturellen Öffentlichkeit nicht mehr ganz so geliebte Ex von Britney Spears, bei allen anderen Ex *NSYNC-Mitglied, brachte im vergangenen Jahr erst eine neue Platte heraus. Die ist aber nicht der Rede wert und das weiß Justin wohl am besten. Nachdem er mit seinen alten R&B-Party-Fegern „Mirrors“ (2013) und „Cry Me a River“ (2002) seine Show fulminant startet, verlässt er sich auch danach größtenteils auf seine Klassiker.
Darunter viele Medleys und gekonnte Instrumental-Passagen seiner ihn begleitenden Big Band. Es braucht eigentlich nicht lange, bis man alles vergisst, was man in den letzten Jahren über Timberlake gelesen oder nicht gelesen hat. Der 44-Jährige kann es noch. Er flirtet mit den Fans und scheut, ganz Profi, den inzwischen andauernden Sturzregen nicht. Große Teile seiner ausgefeilten und aufwändigen Performance verbringt er tanzend am nicht überdachten Bühnenrand. Dass sich auf dem Boden derselbigen inzwischen ein See gebildet hat, stört ihn reichlich wenig. Im stehenden Wasser tanzen, ein Effekt für sich.
Zur Zugabe, das als Ballade vorgetragenen Liebeslied „Until the End of Time“, legt er dann erstmals seine Regenjacke ab und spielt im T-Shirt das Keyboard. Der Himmel dankt es ihm und hält kurzzeitig dicht. Tausendfach leuchten Handys vor ihm auf. Der Applaus, wie das Gekreische der Fans ist entsprechend ohrenbetäubend.
Justin zeigt final: Willkürliches Line-up, unpassendes Wetter, eine konkurrierende Technoparade, alles egal. Und das Lollapalooza schafft an Tag eins, internationalen Krisen und ausbleibendem Jahrhundertsommer zum Trotz, ein wohliges Gefühl von Weltfrieden zu verbreiten. Ein alles in allem gelungener Auftakt für ein Festival, das genau das erreichen will. Plus reichlich Kommerz. Aber der gehört ja irgendwie zur allgemeinen Glückseligkeit dazu.
Am Sonntag dürfen sich Fans auf den südkoreanischen Rapper J-Hope („Killin’ It Girl“) freuen, der neben seinen Soloauftritten auch Teil der Boygroup BTS ist. Auch US-Shootingstar Benson Boone („Beautiful Things“) und die britische Sängerin Raye („Escapism.“) stehen am Sonntag auf der Bühne.