Die Stimme des Wilden Südens verstummt: Nachruf auf Matthias Holtmann – Der Mann, der Radio neu erfand und Parkinson mit Rock-’n’-Roll besiegte

Die Ära ist vorbei: Wie Matthias Holtmann dem Südwesten Haltung, Humor und Rock-’n’-Roll ins Radio brachte

Am 10. November 2025 verstummte in Esslingen eine der ganz großen Stimmen der deutschen Radiolandschaft. Matthias „Matze“ Holtmann, die Kultstimme des Südens und eine wahre Ikone des Südwestrundfunks, ist im Alter von 75 Jahren gestorben. Sein Tod hat eine Schockwelle der Trauer ausgelöst, die weit über die Grenzen Baden-Württembergs hinausreicht. Holtmann war nicht nur ein Moderator. Er war ein Pionier, ein musikverrückter Rebell mit dem Schalk im Nacken, der das Radio nicht nur besprach, sondern es lebte und für immer veränderte.

Für unzählige Menschen im Südwesten Deutschlands war seine Stimme über Jahrzehnte hinweg eine tägliche, verlässliche Konstante – der Soundtrack zu langen Autofahrten, dem Feierabendverkehr oder den musikalischen Entdeckungen der Jugend. Wenn Holtmann sprach, sprach er nicht zu den Menschen, sondern mit ihnen, auf Augenhöhe, authentisch, witzig und ohne jegliche Allüren.

SWR-Intendant Kai Gniffke drückte die kollektive Stimmung treffend aus: „Wir verlieren mit Matthias Holtmann eine echte Radiolegende, eine Legende, die das Lebensgefühl des wilden Südens nicht nur verkörpert, sondern entscheidend mitgeprägt hat.“ Sein Vermächtnis ist nicht nur das eines begnadeten Unterhalters, sondern auch das eines Mannes, der bewiesen hat, dass man selbst mit den härtesten Schicksalsschlägen Haltung, Humor und Würde bewahren kann. Sein Weg vom rockenden Schlagzeuger zum Radioarchitekten war so einzigartig wie die Sendungen, die er prägte.

Vom Schlagzeug zur Radiokanzel: Der Rebell aus dem Ruhrgebiet

Matthias Holtmann wurde am 23. Mai 1950 in Recklinghausen geboren, mitten im Ruhrgebiet. Diese Herkunft spiegelte sich in seiner direkten, unverblümten Art wider, die später zu seinem Markenzeichen werden sollte. Doch bevor er die Radiowellen eroberte, gehörte seine ganze Leidenschaft der Bühne – genauer gesagt, dem Schlagzeug. Aufgewachsen in einem kunstnahen Elternhaus, absolvierte er zwar ein Studium an der renommierten Kölner Musikhochschule, doch die graue Theorie konnte ihn nicht halten. Holtmann wollte Rhythmus spüren und das tat er.

In den 1970er-Jahren lebte er den Traum eines Rockmusikers und saß am Schlagzeug der international erfolgreichen Progressive-Rock-Band Triumphirat. Diese Zeit prägte seine Haltung und seine unerschütterliche Rock-’n’-Roll-Attitüde, die er später nahtlos in den Äther übertrug. Die Musik war ihm keine Dienstleistung, sondern eine Berufung.

1979 kam die entscheidende Wende: Holtmann wechselte vom Schlagzeug-Podest hinter die Kulissen und startete als Musikredakteur beim damaligen Süddeutschen Rundfunk (SDR) in Stuttgart. Es war der Ort, an dem er seine wahre Berufung fand. Schnell erkannte man: Dieser Mann war mehr als ein Plattenverwalter. Er hatte ein untrügliches Gespür für Hits, für Stimmungen und vor allem dafür, was die Menschen im Sendegebiet wirklich hören wollten.

Der Architekt des “Wilden Südens”

Seine Fähigkeiten katapultierten ihn schnell in die Position des Musikchefs von SDR3. Zusammen mit einem Team von Gleichgesinnten prägte er das legendäre Motto „Radio für den wilden Süden“. Dies war kein bloßer Slogan, sondern eine Kampfansage und ein völlig neues Lebensgefühl, das in einer sonst oft als behäbig empfundenen öffentlich-rechtlichen Radiolandschaft einschlug wie ein Blitz.

Holtmann brachte eine neue, freche Energie in den Äther – direkt, unberechenbar und immer am Puls der Zeit. Er verstand, dass modernes Radio mehr tun musste als nur informieren; es musste unterhalten, emotionalisieren und eine echte, spürbare Verbindung zu den Hörern aufbauen. Er verband seinen Intellekt und seine enorme Bildung mit einer lässigen Lässigkeit, die eine neue Art der Moderation schuf.

Seine Sendungen wurden zu Kultformaten, die feste Termine im Kalender seiner riesigen Fangemeinde waren. Der SDR3 Treff oder die unvergessliche Sendung Dr. Music machten ihn zur Institution. Als „Dr. Music“ teilte er sein enzyklopädisches Musikwissen so lässig und im Plauderton, dass er zum „Musikprofessor der Nation“ avancierte, dessen Vorlesungen Spaß machten. Er sezierte Songs, erzählte die oft verblüffenden Geschichten hinter den Welthits und machte jeden Hörer ohne Umschweife zum Musikexperten.

Sein Erfolg basierte auf seiner Stimme, die kein neutrales Instrument war, sondern ein Charakterkopf. Sie war schnoddrig, schlagfertig und absolut authentisch. Er war ein Meister des Hörerkontakts, lange bevor das Wort “interaktiv” populär wurde. Er holte die Menschen ins Studio, sprach mit ihnen statt zu ihnen und schuf so eine Gemeinschaft, die ihm über Jahrzehnte die Treue hielt. Seine schlagfertige und freche Art brannte sich ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation ein. Nach der Fusion zum SWR im Jahr 1998 setzte er seine prägende Arbeit als Musikchef von SWR3 fort, bevor er ab 2005 bei SWR1 Baden-Württemberg bis zu seinem Ruhestand eine neue Heimat fand.

Pop und Poesie: Ein Vermächtnis für die Bühne

Matthias Holtmanns kreativer Geist war nicht auf das Radiostudio beschränkt. Eine seiner größten Leidenschaften galt dem VfB Stuttgart, dem er in der Bundesliga-Saison 1999/2000 als Stadionsprecher seine unverwechselbare, autoritäre und doch augenzwinkernde Stimme lieh.

Sein vielleicht größter Geniestreich außerhalb des Radios war jedoch die Veranstaltungsreihe SWR1 Pop & Poesie in Concert, die er 2008 ins Leben rief. Die Idee war einfach, aber tiefgründig und emotional revolutionär: Man nehme die größten Pop- und Rock-Hits der Welt, lasse sie von einer fantastischen Band neu interpretieren und präsentiere dem Publikum dazu die deutschen Übersetzungen der Texte – emotional und szenisch aufbereitet.

Pop & Poesie war mehr als nur ein Konzert. Es war eine einzigartige Mischung aus Theater, Lesung und Live-Musik. Holtmann führte selbst als Moderator durch den Abend, erzählte die oft überraschenden Hintergründe der Lieder und schlüpfte in verschiedene Rollen. Das Format zeigte perfekt, wie tief er die emotionale Wucht verstanden hatte, die Sprache und Musik gemeinsam entfalten können. Bis heute füllt die Reihe große Hallen und ist ein bleibendes kulturelles Vermächtnis, das ihn als kreativen Tausendsassa und Kulturvermittler auszeichnet, der seine Begeisterung mit den Menschen teilte.

Der Mutmacher: Kampf gegen Parkinson mit Würde

2009 traf ihn die Diagnose, die sein Leben fundamental veränderte: Parkinson. Nach über drei Jahren des Kampfes mit Schmerzen und Koordinationsproblemen hatte seine Krankheit einen Namen. Wo andere den Weg des Schweigens und der Verheimlichung gewählt hätten, wählte Holtmann den Weg der radikalen Offenheit. Er sprach ehrlich, ungeschönt und mit seinem typischen, unerschütterlichen Humor über die Erkrankung.

Diese Offenheit war ein Akt unglaublicher Stärke und ein kraftvolles Signal. Er wollte aufklären, Ängste nehmen und anderen Betroffenen Mut machen. Sein Credo wurde zum Leitspruch für Tausende: „Man stirbt mit Parkinson, aber nicht wegen Parkinson.“ Mit dieser Haltung entzog er der Krankheit einen Teil ihres Schreckens und bewies, dass Lebensfreude und Aktivität nicht am Ende sein müssen, nur weil man eine solche Diagnose erhält.

Seine persönliche Auseinandersetzung fand ihren Niederschlag in seiner 2014 erschienenen Autobiografie Holtmanns Erzählungen: Porsche, Pop und Parkinson. Das Buch war wie er selbst: eine Mischung aus Witz, Ironie und schonungsloser Ehrlichkeit, das sein Leben zwischen Radiostudio, Rennstrecke (seine Liebe zu schnellen Autos, insbesondere Porsche, war bekannt) und der Konfrontation mit seiner Erkrankung beschrieb. Es war kein gewöhnliches Promibuch, sondern ein tief bewegender Mutmacher. Auch auf der Bühne, bei Lesungen oder im Rahmen von Pop & Poesie, thematisierte er die Krankheit immer mit einer Leichtigkeit, die sein Publikum zutiefst bewunderte. Er ließ sich nicht von Parkinson definieren, er blieb Matthias Holtmann, der Mann, der Porsche und Pop liebte und eben auch mit Parkinson lebte.

Dieser mutige Umgang mit dem Schicksal machte ihn über seine beruflichen Erfolge hinaus zu einem echten Vorbild.

Der letzte Vorhang: Eine Liebeserklärung

Der offizielle Abschied vom aktiven Radio kam am 29. Mai 2015, als Matthias Holtmann mit 65 Jahren in den Ruhestand ging – ein emotionaler Moment für seine Kollegen und seine riesige Fangemeinde. Doch wer dachte, Holtmann würde sich leise zurückziehen, kannte ihn schlecht. Trotz der fortschreitenden Parkinson-Erkrankung und weiterer schwerer gesundheitlicher Rückschläge, wie einer lebensbedrohlichen Sepsis im Jahr 2023, blieb er aktiv, solange es irgend ging.

Seinen letzten großen öffentlichen Auftritt hatte er im Mai 2024 beim SWR Sommerfestival auf dem Stuttgarter Schlossplatz – ausgerechnet bei seinem Herzensprojekt Pop & Poesie in Concert. Es wurde ein tief bewegender, unvergesslicher Abschied. Als er die Bühne betrat, erhoben sich 4.000 Menschen von ihren Plätzen und feierten ihn mit minutenlangen Standing Ovations. Es war eine letzte, große Liebeserklärung des Publikums an die Stimme des Südens.

Was bleibt von Matthias Holtmann? Zum einen der Radiopionier, der bewiesen hat, dass öffentlich-rechtliches Radio unterhaltsam, intelligent und nah am Menschen sein kann – ein Vorbild für Generationen von Medienschaffenden. Zum anderen bleibt der mutige Mensch, der seiner Krankheit mit bedingungsloser Offenheit begegnete und damit unzähligen anderen Kraft und Hoffnung gab.

Die Band Pur fasste es nach seinem Tod in passende Worte: „Seine Stimme mag verstummt sein, aber die Erinnerung an ihn lebt weiter.“ Die Erinnerung an einen brillanten Entertainer, einen einzigartigen Musikkenner und vor allem an einen beeindruckenden Menschen. Matthias Holtmann ist gegangen, aber der Sound des wilden Südens, den er komponiert hat, wird für immer in den Äthern und Herzen seiner Hörer nachhallen. Du fehlst, Matze.

Related Posts

Our Privacy policy

https://newslitetoday.com - © 2025 News