„Vorbei, vorbei“, so lautet ein bekannter Song von Michelle aus dem Jahr 2020. Fünf Jahre später wird dieser Titel zur bitter-süßen Realität. Die Schlagersängerin, eine der schillerndsten und beständigsten Figuren der deutschen Musiklandschaft, zieht einen endgültigen Schlussstrich. Nach 34 Jahren im Rampenlicht, nach unzähligen Hits, goldenen Schallplatten und emotionalen Höhenflügen, aber auch nach Abgründen, die tiefer kaum sein könnten, hängt die 53-Jährige ihre Karriere an den Nagel. „Es gibt kein Zurück“, versichert sie mit einer Entschlossenheit, die keinen Zweifel zulässt. 34 Jahre in dieser Branche seien genug.
Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe in die heile Welt des Schlagers. Doch wer Michelles Leben und ihre Karriere verfolgt hat, weiß: Bei ihr war nie alles nur „heile Welt“. Ihre Entscheidung, die sie nicht über Nacht traf, sondern die lange in ihr reifte, ist weit mehr als eine spontane Laune. Es ist das logische Finale eines lebenslangen Kampfes, eine Befreiung aus einem System, das sie selbst als „Haifischbecken“ bezeichnet, und eine bewusste Entscheidung für das, was wirklich zählt: die Familie und sie selbst.

Der vordergründige Anlass für diesen radikalen Schnitt ist ein zutiefst menschlicher und wunderschöner: Michelle ist Oma geworden. „Ich bin jetzt Oma“, erklärte die dreifache Mutter sichtlich bewegt. Die Geburt ihres ersten Enkelkindes durch ihre älteste Tochter Céline im August 2024 war ein Weckruf. „Ich spüre jetzt einfach auch, wie wenig Zeit ich eigentlich für meine Kinder im Endeffekt hatte und wie viel Zeit ich mit anderen Menschen verbracht habe“, gestand sie. Dieses „Versäumnis“, wie sie es nennt, will sie nicht wiederholen. Die Prioritäten haben sich verschoben, weg von der Bühne, hin zum Kinderwagen. Eine Entscheidung, die viele arbeitende Mütter und Väter nachvollziehen können, die aber im Showgeschäft, das totale Hingabe fordert, einem Erdbeben gleichkommt.
Doch dieser familiäre Grund ist nur die eine Seite der Medaille. Um Michelles Entschluss wirklich zu verstehen, muss man tiefer blicken, hinter die glitzernde Fassade einer Branche, die sie offen als „vergiftetes Umfeld“ anprangert. „Ich bin 30 Jahre durch ein Haifischbecken geschwommen, meistens ohne Rettungsring“, so ihr schockierendes Resümee. „Jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, wo mir die Kraft fehlt, weiterzumachen.“
Diese Worte lassen erahnen, welchen Preis sie für ihren Erfolg gezahlt hat. Michelle, die mit bürgerlichem Namen Tanja Hewer heißt, spricht von einer „Peitsche im Nacken“ – einem unerbittlichen Druck, nicht nur von außen, sondern auch durch ihren eigenen Perfektionismus. Sie spricht von Managern und Beratern, denen sie blind vertraute und die sie, nach ihrer eigenen Aussage, „nur ausnutzten, um sich an mir zu bereichern“. Dies gipfelte in einem medial ausgeschlachteten Steuerverfahren und einer Nachzahlung von 160.000 Euro. Heute, so sagt sie, habe „nur ich alleine Zugang zu meinem Konto“. Ein bitter erkämpftes Stück Autonomie.

Noch düsterer sind die Erfahrungen, die sie als blutjunge Anfängerin machen musste. Sie berichtet von #MeToo-Momenten, lange bevor es das Wort dafür gab. Als 15- oder 16-Jährige sei ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben worden, dass eine Karriere nur möglich sei, wenn sie „irgendwelche sexuellen Beziehungen“ eingehe. Michelle lehnte ab. Sie fand einen anderen Weg, doch die Narben dieser Demütigungen blieben.
Ihr ganzes Leben ist ein Zeugnis unfassbarer Resilienz. Die Kämpfe begannen nicht erst im Showbusiness, sondern in ihrer Kindheit. Geboren in Villingen-Schwenningen, wuchs sie in einem zerrütteten Elternhaus auf. „Meine Mutter war Alkoholikerin, mein Vater gewalttätig“, offenbarte sie in Interviews. Mit neun Jahren kam sie in eine Pflegefamilie, zeitweise lebte sie sogar auf der Straße. Die Musik war ihre Rettung. Sie wurde in einer Kneipe entdeckt, in der sie arbeitete, und „von der Straße auf die Bühne katapultiert“.
Doch die Dämonen der Vergangenheit ließen sie nie ganz los. Der unermessliche Druck der Branche, gepaart mit ihren traumatischen Kindheitserlebnissen, forderte einen hohen Tribut. Im Jahr 2003, auf dem Höhepunkt ihres Erfolges nach ihrem achten Platz beim Eurovision Song Contest mit „Wer Liebe lebt“, erlitt sie vor einem Auftritt einen Schlaganfall. Völlige Erschöpfung. Sie zog sich zurück, eröffnete zwischenzeitlich einen Hundefriseur-Salon, kämpfte mit Depressionen und unternahm sogar einen Suizidversuch. In ihrem letzten Album „Flutlicht“ verarbeitet sie diese dunkelste Stunde im Song „Gespräch mit Gott“.
Sie kämpfte sich zurück. Immer wieder. Sie stand auf, lächelte für die Kameras, sang ihre Lieder von Liebe und Herzschmerz und ließ sich nichts anmerken. Sie zog ihre drei Töchter groß – Céline aus der Ehe mit dem Sänger Albert Oberloher, Marie aus der turbulenten Beziehung mit Schlager-Kollege Matthias Reim, und Mia-Carolin aus der Ehe mit Josef Shitawey. Sie war die „Löwenmutter“, die versuchte, ihre Kinder aus dem Rampenlicht herauszuhalten, während sie selbst darin verbrannte.

Jetzt, mit 53, hat sie genug gekämpft. „Ich bin noch nie so gesund gewesen wie heute“, sagt sie, und man glaubt es ihr. Sie hat 2021 ihre Brustimplantate entfernen lassen und es als „beste Entscheidung“ ihres Lebens bezeichnet. Und sie hat eine neue Liebe gefunden, die ihr Kraft gibt, auch wenn sie erneut für Kontroversen sorgt: den 27-jährigen Schlagersänger Eric Philippi.
Ihre Beziehung, die sie 2023 öffentlich machten, wurde wegen des Altersunterschieds von 26 Jahren gnadenlos kritisiert und verspottet. Doch Michelle steht dazu. „Wir sind unzertrennlich seit dem ersten Tag“, betont sie. Es scheint, als habe sie in Philippi nicht nur einen Partner, sondern auch einen Verbündeten gefunden, der sie versteht. Sie sind verlobt, eine Hochzeit ist geplant, auch wenn der Termin geheim bleibt. Diese Liebe gibt ihr die Stärke, den letzten, mutigsten Schritt ihrer Karriere zu gehen.
Ihr Abschied ist kein leises Verschwinden, sondern ein finaler Paukenschlag. Das Album „Flutlicht“, das im Juli 2024 erschien, ist ihre große Abrechnung – nicht verbittert, wie sie betont, aber schonungslos ehrlich. Es ist ihre Autobiografie in Songform. Und sie geht ein letztes Mal auf die große Bühne. Die „Zum letzten Mal – Die Abschiedstournee 2026“ ist bereits angekündigt. Es wird eine emotionale Reise durch 34 Jahre Musikgeschichte, mit einem finalen, symbolträchtigen Abschluss: Das allerletzte Konzert findet am 15. Februar 2026 in Berlin statt – an ihrem 54. Geburtstag.
Michelle, der Paradiesvogel des deutschen Schlagers, klappt die Flügel ein. Sie war nie stromlinienförmig, nie einfach nur die nette Sängerin von nebenan. Sie war und ist eine Kämpferin, die sich ihren Erfolg gegen alle Widerstände erkämpft hat. Nun hat sie sich für einen neuen Kampf entschieden: den für ihr eigenes Glück, für ihre Familie und für ein Leben jenseits des „Haifischbeckens“.
„Mein Herz blutet nicht“, sagt sie über ihren Abschied. Es ist die Aussage einer Frau, die mit sich im Reinen ist. Die Fans werden trauern, doch ihre Musik, so versichert sie, „bleibt ja“. Und während die Künstlerin Michelle 2026 die Bühne verlässt, fängt die Frau Tanja Hewer vielleicht gerade erst an, richtig zu leben.