Die sanfte Wahrheit: Reinhard Mey bricht sein Schweigen und enthüllt die melancholischen Schatten seines Lebenswerks
Reinhard Mey, der Mann, dessen Lieder nach Leben, Melancholie und Freiheit rochen, war nie der Lauteste. Geboren am 8. Mai 1945 in Frankfurt am Main, wählte er von Beginn seiner beispiellosen Karriere an den leisen Blick und das klare Wort. Seine poetischen Erzählungen, die ganze Generationen durch erste Lieben, Abschiede und das einfache, stille Sein begleiteten, klangen wie „Briefe an das Leben selbst“. Doch mit 82 Jahren blickt der Titan des deutschsprachigen Chansons zurück – nicht mit Wut, aber mit jener tiefen, leisen Müdigkeit, die nur jene kennen, die stets versucht haben, in einer zunehmend lauten Welt gut zu bleiben.
Zum ersten Mal spricht Mey nun offen über jene fünf berühmten Weggefährten, die ihn auf seinem langen Weg tief enttäuscht haben. Es geht dabei nicht um Hass, sondern um etwas Schmerzhafteres: Enttäuschung, die aus zerbrochenen Idealen, unverstandener Freundlichkeit und der Kollision unterschiedlicher künstlerischer Wahrheiten entstand. Er war „immer freundlich“, so Mey, doch „Freundlichkeit ist keine Rüstung, sie macht dich verletzlich“. Die Geschichten dieser fünf Schatten sind eine schonungslose Analyse der deutschen Musikszene und der tiefen Kluft zwischen politischem Kampf und stiller Poesie.

Wolf Biermann – Der Spiegel der Rebellion, der ihn verletzte
Auf Platz fünf nennt Reinhard Mey eine Figur, die das Wort zur Waffe machte: Wolf Biermann, der Poet des Widerstands und Sänger, der sich nie beugte. Mey bewunderte Biermanns Mut, seine Fähigkeit, laut zu sein, wo Mey selbst leise blieb. Genau hier lag jedoch der tief sitzende Konflikt zwischen den beiden Idealisten. Der eine, Biermann, kämpfte mit der „Faust des Wortes“, der andere, Mey, mit der „Zärtlichkeit eines Akkords“. Beide strebten nach Freiheit, aber auf fundamental unterschiedliche Weise.
Als Biermann in den 1970er Jahren in der DDR ausgebürgert wurde und zum Symbol der Rebellion avancierte, spürte Mey, wie sich die Kunst im gespaltenen Land ebenfalls spaltete. Er weigerte sich, Parolen oder Hymnen zu singen – er wollte lediglich die Wahrheit. Bei einer gemeinsamen Veranstaltung in Hamburg kulminierte die Spannung in einem schmerzhaften Moment, den Mey bis heute trägt. Biermann legte seinen Arm um Mey und sagte ins Mikrofon: „Das hier ist ein netter Mann, aber die Welt verändert man nicht mit Nettigkeit“. Das Publikum lachte, Mey lächelte, doch innerlich zog sich alles zusammen. Für Mey war es ein Irrtum: „Man kann die Welt auch mit Freundlichkeit verändern, nur dauert es länger“.
Biermann suchte die Schlagzeilen, Mey die Stille. Obwohl sie eine tiefe Sehnsucht nach Aufrichtigkeit und Unabhängigkeit verband, konnte Mey den kämpferischen, bitteren Ton Biermanns nicht lieben. Er erinnerte ihn zu sehr an das, was er niemals sein wollte. Biermann wurde für Mey zu einem Spiegel, in dem er die Seiten an sich sah, die er vor sich selbst verstecken wollte. Die Wehmut, mit der Mey heute über Biermann spricht, rührt von dieser schmerzhaften Selbstentdeckung her.
Konstantin Wecker – Der Freund, dessen Worte Verrat bedeuteten
Die Beziehung zu Konstantin Wecker war eine Geschichte zweier Seiten derselben Münze. Mey, der sanfte Poet, und Wecker, der wütende Idealist. Beide schrieben über dieselben Werte: Freiheit, Liebe, Menschlichkeit. Doch dort, wo für Wecker die Kunst ein Kampf war, bedeutete sie für Mey Trost. In den späten 70ern teilten sie Bühnen vor einem Publikum, das mehr suchte als Unterhaltung. Mey glaubte: „Ich glaube Zärtlichkeit verändert mehr als Zorn“.
Doch in den 80er Jahren wurde Deutschland lauter. Die Friedensbewegung, die Proteste – die Gesellschaft verlangte nach klaren Bekenntnissen. Wecker wurde zum lauten, unerschrockenen Helden, während Mey, der sich weigerte, Parolen zu singen, als „feige, unpolitisch, zu sanft“ galt. Mey fühlte sich als der, „den man übersieht, wenn man schreien will“.
Der endgültige Bruch kam durch ein einziges, öffentliches Interview. Wecker sagte über Mey: „Er singt schöne Lieder, aber manchmal habe ich das Gefühl, er hat vergessen, wofür man singt“. Ein Satz, der das Vertrauen zerschnitt wie ein Messer. Mey las es am Küchentisch. Er schwieg lange und sagte schließlich nur: „Ich glaube, er kennt mich nicht mehr“. Die jahrelange Funkstille, die folgte, war mehr als ein Streit – es war der Verlust einer Freundschaft, die an Worten zerbrach. Mey konnte ihm nie böse sein, weil Wecker seine Wahrheit sprach, doch es war nicht Mey’s Wahrheit. Die bittere Erkenntnis des Sängers: „Freundschaft ist wie Musik. Wenn sie einmal verstimmt ist, kann man sie stimmen, aber sie klingt nie wieder gleich“.

Hannes Wader – Der Bruder, der sich politisch verlor
Die Freundschaft zwischen Hannes Wader und Reinhard Mey war aus „Liedern gebaut, aus Straßen, Gitarren und langen Nächten“. Sie waren Brüder, die dasselbe Lied von Freiheit sangen, aber irgendwann unterschiedliche Strophen fanden. Wader war radikaler, politischer, kompromissloser; Mey der Beobachter, der das Große im Kleinen suchte. Sie verstanden sich ohne Worte.
Der Riss, der leise, aber endgültig war, entstand, als Wader sich offen der kommunistischen Bewegung anschloss. Für Mey war dies eine Grenze, die seine Musik nicht überschreiten durfte. „Ich konnte nicht mehr singen, wenn man mir sagte, wofür ich zu singen habe“, erklärte Mey später. „Ich wollte frei bleiben, auch von der Freiheit der anderen“. Wader wiederum nannte seinen Freund bürgerlich, angepasst und zu vorsichtig für den wahren Wandel. Der Satz, der Mey am tiefsten traf, kam nicht von einem Gegner, sondern von seinem Bruder: „Reinhard, du willst Frieden, aber du hast Angst vor dem Kampf“.
Jahre später, ein zufälliges Treffen in Hamburg, ein Moment des Schweigens im Café, in dem „alles gesagt“ war. Mey fasste den Verlust wie folgt zusammen: „Wir haben uns verloren, nicht weil wir uns stritten, sondern weil wir zu sehr glaubten, Recht zu haben“. Die Melodie, die Mey später in einem Lied verarbeitete, sprach von dieser schmerzhaften Trennung: „Ich wollte wie Orfeus singen, ein Lied über Freundschaft, über Stolz, über Abschied“. Mey hat Wader nie verurteilt, wusste aber, dass sie auf unterschiedlichen Wegen liefen.
Reinhard Fendrich – Der Spott der neuen Jugend
Reinhard Fendrich, der junge Wiener mit der frechen Leichtigkeit, stellte mit Ironie und Biss alles in Frage, was vor ihm galt – und lachte ausgerechnet über den Mann, der ihm den Weg bereitet hatte. Mey hatte Fendrich zunächst sehr gemocht und ihn als Stimme mit Mut bezeichnet. Doch Fendrich wollte keine Väter, er wollte Gegner.
In einem Interview Anfang der 90er Jahre fragte man Fendrich nach seinen Vorbildern. Er lachte und sagte: „Reinhard Mey? Ein netter Kerl, aber der singt, als würde er Briefe an den lieben Gott schicken“. Das Publikum lachte, Mey las es allein in Berlin. „Innerlich war ich leer, weil ich begriff, dass Freundlichkeit in dieser neuen Welt ein Grund zum Spott geworden war“.
Ein persönliches Treffen auf einem Festival in Österreich verschärfte die Wunde. Mey reichte Fendrich die Hand und wünschte ihm höflich, er möge weiter so ehrliche Lieder schreiben. Die Antwort Fendrichs wirkte wie ein Stich: „Ich hoffe, du fängst irgendwann damit an“. Mey zog sich zurück und spielte eine leise Melodie auf seiner Gitarre, die später zu dem Lied „Inzwischen bin ich still“ wurde. Mey hat ihn nie gehasst, wusste aber, dass Fendrichs Spott nur eine andere Form von Unsicherheit war. Die Essenz seiner Enttäuschung war, dass Fendrich nicht hinsah, dass man auch leise rebellieren kann. Für Mey war das „Echtsein“ die größte Provokation in einer Welt, die Oberflächlichkeit feierte.

Herbert Grönemeier – Die Verdrängung einer Ära
Die größte Melancholie verband Mey jedoch mit jenem Künstler, der unbewusst das Ende seiner Ära einläutete: Herbert Grönemeier. Grönemeier, die neue Stimme einer neuen Zeit, war roh, laut und verletzlich. Er schrie, wo Mey flüsterte. Mey respektierte ihn immer, doch Grönemeier war das „Symbol dafür, dass die Welt sich weitergedreht hatte und ich stehen geblieben war“.
In den frühen 80ern endete das Zeitalter der leisen Lieder. Die Jugend suchte keine Gedichte mehr, sondern Bekenntnisse; keinen Melodie, sondern Schmerz. Grönemeier lieferte beides, ehrlich und kompromisslos. Seine Stimme war kein Gesang, sie war ein Aufschrei. Plötzlich, so Mey, fühlte er sich unsichtbar, obwohl er dieselben Wahrheiten sang, nur anders. Kritiker feierten Grönemeier als den Sänger, der endlich Gefühle zeigte – eine Aussage, die Mey schmerzte, da er sein Leben lang Gefühle gezeigt hatte, nur eben ohne zu schreien.
Bei einer Preisverleihung in Köln kam es zu einem kurzen, flüchtigen Treffen hinter der Bühne. Grönemeier sagte höflich: „Ich habe Ihre Lieder gehört, sie sind schön, aber nicht meine Welt“. Mey nickte und antwortete mit weiser Resignation: „Das ist gut so, sonst gäbe es keine Welt nach mir“. Der Satz klang nach Weisheit, doch in seinem Herzen brannte die Erkenntnis, dass die Welt nach ihm ihn nicht mehr brauchte.
Es war kein Hass, keine Feindschaft, sondern nur eine unausgesprochene Melancholie. Grönemeier, der ehrliche Handwerker des Gefühls, hatte unbewusst das Ende einer Ära eingeläutet. Mey verstand: „Die Menschen haben sich einfach entschieden, wen sie lauter hören wollten“. Jahre später nannte Grönemeier Mey in einem Interview ein Idol, den ersten, der gezeigt habe, dass ein Lied wie ein Gebet sein kann. Als Mey das hörte, lächelte er nicht triumphierend, sondern dankbar.
Das letzte Lied: Stille als Vermächtnis
Heute, mit 82 Jahren, sitzt Reinhard Mey oft in seinem Garten, die Gitarre auf dem Schoß, das Publikum durch das Zwitschern der Vögel ersetzt. Er singt, aber er hat „nur aufgehört, gehört zu werden“. In diesen Worten liegt kein Groll, sondern die Ruhe des Wissens, dass jedes Lied irgendwann endet, aber der Klang bleibt.
Er blickt auf seine Weggefährten zurück und erkennt: Keiner von ihnen war ein Feind; alle waren Teil seines Liedes. Er lernte, dass man Menschen nicht nach dem Applaus beurteilen sollte, den sie dir geben, sondern „nach dem Schweigen, dass sie hinterlassen“.
Wenn man ihn heute fragt, ob er etwas bereut, lächelt er sanft. „Vielleicht“, sagt er, „hätte ich manchmal lauter sein sollen, aber dann wäre ich nicht ich gewesen“. Reinhard Mey sang nicht, um gehört zu werden – er sang, um zu bleiben. Seine stillen Wahrheiten sind das ewige Vermächtnis eines Mannes, der die Welt mit Zärtlichkeit verändern wollte und damit mehr erreichte als manch lauter Aufschrei.