Die Letzte Synchronität: Alice und Ellen Kessler wählen den gemeinsamen Abschied – Eine Ikone geht, wie sie lebte: vereint und selbstbestimmt.
Der Morgen, der die Welt des Showbusiness und weit darüber hinaus erreichte, war von einer Nachricht von historischer Tragweite und zutiefst menschlicher Rührung geprägt. Alice und Ellen Kessler, die berühmten Zwillinge, deren Eleganz und Perfektion die 1960er und 1970er Jahre in Europa definierten, sind gemeinsam im Alter von 89 Jahren verstorben. Eine Ära ist zu Ende gegangen, doch die Umstände ihres Abschieds hinterlassen nicht nur Trauer, sondern auch Fassungslosigkeit, Respekt und eine tiefgreifende philosophische Frage über das Ende eines gemeinsamen Lebens. Die Kessler-Zwillinge, geboren am 20. August 1936 in Nerchau/Sachsen, wählten ihren letzten Weg in vollkommener Übereinstimmung und Selbstbestimmung: Sie entschieden sich für den assistierten Suizid.
Dieser gemeinsame Tod, der sich in ihrem langjährigen Wohnort Grünwald bei München ereignete, ist das letzte, vielleicht bewegendste Kapitel einer Geschichte, die von Anfang an von einer fast unauflöslichen Verbindung geprägt war. Die Entscheidung, von der die Sprecherin der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), Vega Wetzel, bestätigte, dass sie bewusst und vorbereitet im Einklang mit deutschem Recht getroffen wurde, schloss den Kreis ihres Lebens auf eine Weise, die beinahe poetisch anmutet. Zusammen geboren, zusammen gelebt, zusammen gestanden auf den Bühnen der Welt – und nun zusammen gegangen. Es ist ein Abschied, der weit über die Meldung eines Todesfalls hinausgeht; es ist ein Statement über Solidarität, persönliche Freiheit und die Stärke einer zwillingshaften Verbundenheit, die selbst die Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden schien.

Die Unauflösliche Harmonie: Eine Einheit in Kunst und Leben
Vom ersten Moment ihres Erscheinens in der Öffentlichkeit an waren Alice und Ellen Kessler unzertrennlich. Ihre Karriere ist untrennbar mit dem Konzept der Perfektion verbunden, doch der Kern ihres Erfolgs war die innere Symmetrie, die natürliche Harmonie ihrer Beziehung. Auf der Bühne wirkte ihre Synchronisation beinahe mechanisch exakt, doch darunter schimmerte stets die natürliche Freude am Tanz und eine tiefe, angeborene Übereinstimmung durch, wie sie die Welt auf der Bühne selten zuvor gesehen hatte.
Bevor die Zwillinge Italien, das Land, das sie zu Legenden machte, eroberten, hatten sie bereits in Paris Maßstäbe gesetzt. Als Tänzerinnen gehörten sie zu den berühmten Bluebell Girls von Margaret Kelly im legendären Lido. Diese Zeit formte ihre Disziplin und ihren Stil. Die Bluebell Girls waren bekannt für Perfektion, Stil und exakte Choreografie – eine Schule, die Alice und Ellen Kessler mit Bravour absolvierten und deren Präzision sie in ihr gesamtes späteres Schaffen übertrugen. Ihre künstlerische Bandbreite war bemerkenswert. Sie tanzten, sangen, nahmen am Eurovision Song Contest teil und traten in musikalischen Revuen auf. Jede Geste, jeder Schritt, jede Fußbewegung war perfekt aufeinander abgestimmt, ein Zusammenspiel, das seinesgleichen suchte.
Die Eroberung Italiens: Die „Beine der Nation“
Mit diesem Rüstzeug kamen Alice und Ellen Kessler nach Italien und wurden schnell zu den faszinierendsten Erscheinungen des noch jungen, schwarz-weißen Fernsehens der 1960er Jahre. Dort löste die Nachricht ihres Todes einen besonders tiefen Schock aus. Italien, das Land, in dem sie in Shows wie Milleluci, Canzonissima und Studio Uno das Publikum mit ihrer Eleganz, ihrer perfekten Synchronisation und ihrem stets strahlenden Lächeln verzauberten, betrachtete sie als Symbole eines goldenen Zeitalters der Fernsehunterhaltung.
Ihre Popularität war immens. Sie wurden zu festen Gesichtern der Samstagabendunterhaltung, die für Glamour, Musik und Unterhaltung stand. In Italien prägten sie die Art und Weise, wie Tanz und Gesang im Fernsehen präsentiert wurden, maßgeblich. Sie wurden dort liebevoll und bewundernd als „die Beine der Nation“ bekannt – eine Anerkennung, die nicht nur auf Ästhetik beruhte, sondern vor allem auf der Disziplin, der Präzision und der Professionalität, die sie in jede ihrer Darbietungen legten. Ihre Auftritte waren keine Zufallsprodukte; sie waren das Ergebnis jahrelangen, intensiven Trainings und einer einzigartigen künstlerischen Verbindung. Sie verstanden es meisterhaft, Tanz, Musik und Persönlichkeit zu einer Einheit zu verschmelzen, deren Perfektion beinahe hypnotisch wirkte.

Der Skandal der Wollstrümpfe: Zwischen Sittenwächtern und Faszination
Die Faszination, die die Kessler-Zwillinge auf das Publikum ausübten, führte zu einem der kuriosesten Skandale der italienischen Fernsehgeschichte. Die Zuschauer waren derart gebannt von ihren berühmten, oft nur leicht bedeckten Beinen, dass die staatliche Fernsehanstalt RAI sich zu drastischen Maßnahmen genötigt sah. Die Sittenwächter des Senders führten strengere Vorschriften ein, die besagten, dass die Schwestern fortan undurchsichtige Wollstrümpfe tragen mussten. Diese Strümpfe waren noch dichter und blickdichter, als es die Tradition des Fernsehens der 1960er Jahre ohnehin vorsah.
Diese Zensur war ein einzigartiges Zeugnis für die beispiellose Anziehungskraft und den unterschwelligen Skandal, den Alice und Ellen Kessler in der konservativen Fernsehkultur jener Zeit auslösten. Doch selbst diese Einschränkung konnte ihren unwiderstehlichen Charme und ihre Eleganz nicht mindern. Im Gegenteil: Ihr Talent und ihre unübertroffene Bühnenpräsenz blieben erhalten, und sie bewiesen, dass wahre Kunst über jeden aufgezwungenen Dresscode triumphieren kann.
Besonders in Erinnerung bleibt das berühmte Pas de deux mit dem Choreografen Don Lurio, der zu jener Zeit für einen Großteil der Fernsehballett-Szenen verantwortlich war. Die Zusammenarbeit zwischen den Zwillingen und Lurio wurde zu einem Symbol für Anmut und Perfektion. Lurio verstand es, die Einzigartigkeit der Schwestern hervorzuheben und gleichzeitig ein Ensemble zu schaffen, das das Publikum in seinen Bann zog. Dieses Zusammenspiel aus strenger Disziplin, präziser Synchronität und jener unnachahmlichen Leichtigkeit, die ihre Bewegungen auszeichnete, wurde zur Legende.
Das Musikalische Vermächtnis: „Da-Da-Un-Pa“ als kulturelles Phänomen
Neben ihren visuellen Auftritten hinterließen die Kessler-Zwillinge auch im musikalischen Bereich Spuren, die tief im kollektiven Gedächtnis der Italiener verankert sind. Ihr Song La notte piccola wurde 1965 in der Version für Studio Uno sofort zum Hit, doch noch weiter verbreitet war die Single Da-Da-Un-Pa aus dem Jahr 1968. Die eingängige Melodie, der markante Rhythmus und vor allem die ikonische Choreografie der gekreuzten Beine machten diesen Song unvergesslich.
Diese Nummer war mehr als nur eine Tanzaufführung; sie war ein kleines Gesamtkunstwerk. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sangen die Melodie, imitierten die berühmte Choreografie und bewunderten die makellose Symmetrie der beiden Künstlerinnen. Da-Da-Un-Pa verkörperte das Herzstück dessen, wofür die Kessler-Zwillinge standen: technische Brillanz, perfekte Harmonie und ein unvergleichliches Gespür für Unterhaltung. Ihr Einfluss auf die italienische Popkultur ist tiefgreifend; sie haben die Standards der Showbranche neu definiert und eine ganze Generation von Zuschauern verzaubert. Ihre Performances leben bis heute in Erinnerungen und auf Streaming-Plattformen weiter.

Der Elegante Rückzug: Vom Rampenlicht zur Selbstironie
Ab den 1970er Jahren zogen sich die Kessler-Schwestern langsam aus dem intensivsten Rampenlicht der großen Fernsehshows zurück. Die fordernden Jahre auf den Bühnen Europas hatten ihren Tribut gefordert, und sie widmeten sich vermehrt der Musical-Komödie und leichteren Unterhaltungsformen. Dennoch gelang es ihnen, die Aufmerksamkeit des Publikums zu behalten und viele ihrer Auftritte wurden zu Ikonen der italienischen Unterhaltung.
Ein Moment sticht bis heute heraus und wird auf Streaming-Plattformen noch immer millionenfach abgerufen: Ihr Auftritt in der Show Milleluci im Jahr 1975, zusammen mit den ebenfalls legendären Künstlerinnen Raffaella Carrà und Mina. In einem Sketch traten die Kessler-Zwillinge auf und verspotteten auf humorvolle Weise ihre eigenen, überhöhten Stärken – oder vermeintlichen Schwächen. Die Zwillinge schmolzen mit ihren Kolleginnen zusammen, wechselten die Rollen, imitierten sich gegenseitig und kreierten eine Choreografie voller Witz, Eleganz und Ironie.
Dieser Auftritt zeigte eindrucksvoll, dass sie nicht nur Tänzerinnen von disziplinierter Anmut waren, sondern auch meisterhafte Performerinnen, die Humor, Gesang und Bewegung in perfekter Harmonie miteinander verbinden konnten. Sie bewiesen, dass Eleganz und Witz keine Gegensätze darstellen, sondern ineinander verschmelzen können, wenn Talent, Training und Kreativität aufeinander treffen. Ihre ironische Selbstreflexion war nicht nur Unterhaltung, sondern auch ein Akt der Selbstbestimmung, der die Strenge traditioneller Ballettvorführungen aufbrach.
In ihren letzten Lebensjahren lebten die beiden Schwestern ein zurückgezogenes, friedliches Leben in Bayern. Kein Skandal, kein Lärm, keine Prahlerei – nur die Gesellschaft der anderen und die Erinnerung an ein erfülltes Leben, das ganz der Kunst gewidmet war. Die Menschen in Grünwald beschrieben sie als zwei Damen von außergewöhnlicher Freundlichkeit, zwei elegante, ruhige Frauen, die stets die Haltung großer Künstlerinnen bewahrten.
Der Letzte Akt der Freiheit: Die Entscheidung für den assistierten Suizid
Die Nachricht von ihrem gemeinsamen, selbstgewählten Tod hat in Deutschland und Italien eine neue, notwendige Diskussion über Selbstbestimmung im letzten Lebensabschnitt angestoßen. Ihre Entscheidung für den assistierten Suizid, ein in vielen Ländern kontrovers diskutiertes, in Deutschland jedoch unter bestimmten Umständen legales Thema, war zutiefst persönlich.
Die DGHS betonte, dass die Entscheidung in vollkommener Übereinstimmung, besonnen und nüchtern getroffen wurde. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass die Zwillinge diesen letzten Schritt aus Verzweiflung wählten. Im Gegenteil, es scheint der letzte, harmonische Akt einer lebenslangen, bedingungslosen Partnerschaft zu sein. Die Kessler-Zwillinge entschieden sich, ihren Weg gemeinsam und auf dieselbe Weise zu beenden, als hätten sie sich entschieden, diese Welt in der Unversehrtheit ihrer Zwillingsschwesternschaft zu verlassen, die nichts trennen konnte.
Dieser Akt der bewussten und vorbereiteten Entscheidung ist ein mächtiges Plädoyer für die persönliche Freiheit und die Würde des Menschen bis zum letzten Atemzug. Der Tod, so traurig er auch ist, lässt ihr Leben als einen geschlossenen Kreis in Erinnerung bleiben. Das letzte Bild, das das Publikum von ihnen behält, ist das Bild zweier Frauen mit grauem Haar, deren Lächeln noch immer strahlend war und deren Augen Intelligenz und Charme ausstrahlten. Sie waren nicht nur künstlerische Ikonen, sie verkörperten Solidarität, Professionalität und Selbstachtung bis zum Ende.
Ein Vermächtnis für die Ewigkeit
Heute, da wir von Alice und Ellen Kessler Abschied nehmen, bleibt nicht nur Trauer, sondern tiefe Dankbarkeit für zwei Künstlerinnen, die ihr Leben der Bühne und dem Publikum widmeten. Das Licht, das sie hinterlassen haben, wird in den Herzen von Millionen, die sie liebten, weiterleben.
Die Kessler-Zwillinge haben mit ihrer Perfektion, ihrem Glamour und ihrem Humor die Grenzen der Fernsehunterhaltung verschoben. Ihre Fähigkeit, das Publikum zu fesseln, zu überraschen und zu unterhalten, ist bis heute spürbar. Von den Disziplinjahren im Pariser Lido bis zum letzten, selbstbestimmten Schritt in Grünwald war ihr Leben ein Meisterwerk der Synchronität. Alice und Ellen Kessler werden immer als die Legenden des italienischen Fernsehens in Erinnerung bleiben – die Zwillinge, die mit ihren gekreuzten Beinen, perfekter Symmetrie und unvergesslicher Ausstrahlung die Herzen eines ganzen Landes eroberten. Ihr Vermächtnis ist unsterblich, ein leuchtendes Zeugnis dafür, dass wahre Eleganz und Talent zeitlos sind.