Hark Bohm (86) ist tot: Deutschlands Kino verliert seinen radikalsten Erzähler und Pionier des sozialkritischen Films
Hamburg. – Die Nachricht traf die deutsche Kulturszene wie ein Blitz aus heiterem Himmel, doch sie ist von jener stillen, tiefen Trauer begleitet, die nur der Verlust eines echten Giganten hervorrufen kann. Hark Bohm, der unverwechselbare Regisseur, Drehbuchautor, Schauspieler und unermüdliche Förderer des deutschen Films, ist am vergangenen Freitag im Alter von 86 Jahren in seiner Heimatstadt Hamburg verstorben. Umgeben von seiner Familie, sei er friedlich eingeschlafen, wie seine Tochter der Deutschen Presseagentur bestätigte. Mit seinem Tod verliert Deutschland einen seiner prägendsten Köpfe, dessen Werk von einer seltenen Mischung aus gesellschaftlicher Scharfsicht, erzählerischer Klarheit und tiefer menschlicher Empathie geprägt war.
Bohm war kein Mann des lauten, glamourösen Kinos. Er war ein stiller Beobachter, dessen Kamera stets auf jene Ecken der Gesellschaft gerichtet war, die andere lieber ignorierten. Seine Filme waren Seismografen für soziale Spannungen und die Lebensrealitäten derer, die am Rande standen. Er gab den Jungen, den Verlierern und den Suchenden eine Stimme – eine Haltung, die ihn zu einem Schlüsselakteur des sozialkritischen Kinos der Bundesrepublik machte.

Die Norddeutsche Prägung und der Ruf der Leinwand
Die Wurzeln Hark Bohms liegen im rauen, ehrlichen Norden. Geboren 1939 in Othmarschen, Friesland, war seine norddeutsche Herkunft mehr als nur ein geografischer Zufall; sie war eine tief verwurzelte Prägung, ein unsichtbarer Stempel auf seiner Kunst, den er selbst zeitlebens betonte. Die Weite der Küste, der direkte Tonfall der Menschen, aber auch die versteckten sozialen Nöte des ländlichen Raumes und der Hafenstädte – all das floss in sein künstlerisches Credo ein. Bevor er jedoch dem Ruf der Leinwand folgte, schlug Bohm einen zunächst traditionellen Weg ein und studierte Rechtswissenschaften. Es ist eine faszinierende Fußnote seiner Biografie: Der Mann, der später die Ungerechtigkeiten des Systems schonungslos entlarven sollte, begann seine Karriere mit dem Studium der Gesetze, die dieses System aufrechterhielten.
Doch die künstlerische Berufung war stärker. Bohm wechselte das Metier und stieg in den späten 60er Jahren in eine Filmwelt ein, die sich im Umbruch befand. Es war die Ära des Neuen Deutschen Films, der das verstaubte Nachkriegskino revolutionierte. Bohm reihte sich nicht nur ein, er gestaltete die Bewegung aktiv mit, indem er sich schnell als Regisseur etablierte, der die gesellschaftliche Realität ohne feuilletonistische Verklärung auf die Leinwand brachte.
Klassiker der Sozialkritik: Das filmische Erbe
Das Herzstück seines Schaffens bilden jene Filme, die ihm den Ruf eines Meistererzählers einbrachten und die bis heute als Pflichtlektüre des deutschen Kinos gelten. Sein Durchbruch gelang ihm 1976 mit „Nordsee ist Mordsee“, ein Film, den Bohm selbst stets als sein Herzensprojekt bezeichnete. Der Titel ist programmatisch: Er bricht die romantische Vorstellung der Nordseeküste und zeigt die Härte des Aufwachsens in einer Umgebung, in der Jugendliche ihre Identität zwischen Rebellion und Perspektivlosigkeit finden müssen. Der Film, eine authentische Coming-of-Age-Geschichte, setzte neue Maßstäbe für die Darstellung jugendlicher Lebenswelten und deren Konflikte. Bohm schuf Charaktere von brutaler Ehrlichkeit, deren Schicksale das Publikum zutiefst berührten und zum Nachdenken zwangen.
Zwei Jahre später, 1978, folgte „Moritz, lieber Moritz“, ein weiteres tiefgehendes Porträt der Jugend, das die komplexen Verhältnisse und inneren Nöte eines Jungen aus gutem Hause beleuchtete. Bohms feine psychologische Beobachtungsgabe erlaubte es ihm, die unsichtbaren Mauern der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar zu machen.
Seinen vielleicht größten formalen und thematischen Triumph feierte Bohm jedoch 1988 mit „Yasemin“. Der Film, der die Geschichte einer türkischstämmigen Jugendlichen in Hamburg erzählt, thematisierte die Herausforderungen von Integration und Identität mit einer Sensibilität und Vorausschau, die ihrer Zeit weit voraus war. „Yasemin“ war ein Meisterwerk der interkulturellen Verständigung, das die damalige Debatte befeuerte und Bohm zu Recht den Bundesfilmpreis in Gold einbrachte. Die Anerkennung war ein Beleg für sein feines Gespür, hochaktuelle und emotional aufgeladene Themen nicht nur zu berühren, sondern in tiefgreifende, universelle menschliche Geschichten zu verwandeln. Es war diese Fähigkeit, im Speziellen das Allgemeine zu finden, die sein Regiehandwerk so unverzichtbar machte. Seine Filme waren Mahnungen und gleichzeitig Hoffnungszeichen, dass ein besseres Miteinander möglich ist.

Mehr als nur Regie: Der unverwechselbare Darsteller
Bohms Talent beschränkte sich nicht auf die Position hinter der Kamera. Als Schauspieler bewies er eine Vielseitigkeit und Präsenz, die ihm eine einzigartige Stellung in der deutschen Filmszene verschaffte. Seine Auftritte waren oft von einer unaufdringlichen Intensität geprägt, die seine Charaktere unvergesslich machte.
Unsterblich wurde er als Darsteller unter anderem in zwei absoluten Meilensteinen der deutschen Filmgeschichte: Er wirkte in Rainer Werner Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“ (1979) mit, einem der wichtigsten Filme, der die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte beleuchtet. Seine Präsenz in einem solch epochalen Werk unterstrich seine Bedeutung für die gesamte Epoche. Später, 1992, zeigte er seine satirische Seite in Helmut Dietls Erfolgsfilm „Schtonk!“, einer bissigen Komödie über die gefälschten Hitler-Tagebücher. Diese Rollen demonstrierten Bohms Bandbreite: Er konnte in Dramen von größter Schwere genauso überzeugen wie in satirischen Brechungen der deutschen Mentalität. Seine Fähigkeit, sich in die Visionen anderer großer Regisseure einzufügen, während er gleichzeitig seine eigene künstlerische Identität bewahrte, zeugt von seinem tiefen Verständnis des Handwerks.
Der Architekt des unabhängigen Films: Sein institutionelles Vermächtnis
Hark Bohm war jedoch mehr als nur ein Filmschaffender im klassischen Sinne; er war ein Architekt der deutschen Filmlandschaft. Sein Engagement ging weit über das Filmschaffen hinaus und zielte darauf ab, Strukturen zu schaffen, die zukünftigen Generationen eine Plattform bieten sollten.
Im Jahr 1971 gründete er gemeinsam mit anderen Autoren den legendären Filmverlag der Autoren. Diese Initiative war ein revolutionärer Akt der Unabhängigkeit. In einer Zeit, in der die Macht über die Verwertung und den Vertrieb von Filmen bei wenigen großen Verleihern lag, schuf der Filmverlag eine neue Instanz, die es jungen, unabhängigen Talenten ermöglichte, ihre Werke an die Öffentlichkeit zu bringen. Er ebnete unzähligen Filmemachern den Weg und wurde zum Synonym für künstlerische Autonomie und den Widerstand gegen kommerziellen Mainstream-Druck.
Kurz darauf, als Mitbegründer des Filmfests Hamburg, trug Bohm entscheidend dazu bei, eines der wichtigsten Festivals des Landes zu etablieren. Das Filmfest wurde zu einem Ort der Begegnung, des Austauschs und der Entdeckung, der die norddeutsche Metropole fest auf der internationalen Landkarte der Filmkunst verankerte.
Anfang der 1990er Jahre vollzog Bohm einen weiteren fundamentalen Schritt zur Sicherung des filmischen Nachwuchses: Er spielte eine zentrale Rolle beim Aufbau des Filmstudiengangs an der Universität Hamburg. Seine Lehrtätigkeit war mehr als nur das Vermitteln technischer Fähigkeiten; es war eine Schule der Haltung. Er prägte ganze Generationen von Filmschaffenden, indem er ihnen nicht nur das Handwerk, sondern vor allem das ethische Fundament für sozial engagiertes Erzählen vermittelte. Bohm verstand, dass wahrhaftiges Kino eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft trägt. Dieser pädagogische Einsatz festigte seinen Ruf als Mentor und Vordenker, dessen Einfluss weit über die Leinwand hinausreichte.

Der Familienmensch und der visionäre Künstler
Trotz seines öffentlichen Wirkens blieb Hark Bohm zeitlebens ein Familienmensch. Seine Tochter, die nun die traurige Nachricht überbrachte, bezeugte damit indirekt die Wärme und Unterstützung, die er seinen Liebsten schenkte. Kollegen und Freunde erinnerten sich an ihn als einen Mann, dessen Integrität und Menschlichkeit ebenso beeindruckend waren wie sein künstlerisches Talent. Er war bekannt für seine Fähigkeit, zuzuhören, seine Bescheidenheit und seinen unerschütterlichen Mut.
In den Erinnerungen von Weggefährten manifestiert sich das Bild eines visionären Künstlers, der nie davor zurückschreckte, gesellschaftliche Konflikte direkt anzusprechen. Er verstand es, menschliche Geschichten mit einer beeindruckenden Klarheit zu erzählen, die keine Ausflüchte zuließ. Sein Werk ist ein Spiegel der deutschen Geschichte und ihrer sozialen Brüche, aber auch ein Zeugnis der Hoffnung auf Veränderung.
Hark Bohm war ein wichtiger Erzähler, dessen Stimme nun verstummt ist. Doch die Geschichten, die er uns geschenkt hat – von den rauen Küsten der Nordsee bis zu den komplexen Herausforderungen der Migration – werden weiterleben. Sie werden auch kommende Generationen inspirieren, die Welt nicht einfach hinzunehmen, sondern sie durch die Linse des Kinos kritisch zu hinterfragen. Sein Vermächtnis ist nicht nur eine Reihe von Filmen, sondern ein tiefgreifender und nachhaltiger Beitrag zur kulturellen Demokratie Deutschlands. Wir trauern um den Mann, der uns gelehrt hat, genauer hinzusehen, und ehren das Werk, das uns für immer bleibt. Ruhe in Frieden, Hark Bohm.