Die zerbrochene Beherrschung: Markus Lanz’ Frontalangriff auf die „Memmenhaftigkeit“ der deutschen Debattenkultur
Markus Lanz ist im deutschen Fernsehen eine Institution. Seit Jahren führt der ZDF-Moderator seine gleichnamige Talkshow mit einer Mischung aus analytischer Schärfe, chirurgischer Präzision und einer fast unerschütterlichen Beherrschung. Er gilt als Prototyp des professionellen Interviewers, der selbst in den hitzigsten politischen Debatten einen kühlen Kopf bewahrt. Doch selbst ein solches Reservoir an Gelassenheit scheint angesichts der toxischen Tendenzen in der deutschen Öffentlichkeit erschöpft. In seinem gemeinsamen Podcast Lanz und Precht mit dem Philosophen Richard David Precht brach der Damm der Contenance. Der Moderator verlor plötzlich die Fassung und wetterte mit einer nie dagewesenen Schärfe gegen eine aus seiner Sicht grassierende “Memmenhaftigkeit” und die Unfähigkeit, abweichende Meinungen auszuhalten.
Die Wucht des Ausbruchs war unerwartet, die Kernbotschaft jedoch ein journalistisches Credo: Deutschland droht in einer Kultur der Empfindlichkeit und des sofortigen Jammerns zu versinken, wo der Raum für kontroverse, kritische und abweichende Standpunkte erbarmungslos geschlossen wird. Lanz’ explosive Kritik, er habe “die Nase voll von Leuten, die bei jedem Gegenwind sofort rumheulen”, markiert nicht nur einen persönlichen Tiefpunkt seiner Geduld, sondern ist ein alarmierender Weckruf in einer Mediengesellschaft, die zunehmend in Echokammern gefangen ist.

Der Zündfunke: Die Wut über die Kultur des Jammerns
Der Moderator des ZDF-Flaggschiffs, der wie kaum ein anderer die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre hautnah miterlebt und moderiert hat, artikulierte eine tief sitzende Frustration. Der Anlass war eine Reflexion über die Veränderung des Meinungsraumes in Deutschland. Lanz hatte das Gefühl, dass sich die öffentliche Debatte wieder leicht weitet, dass “der Raum für Meinungen wieder breiter wird”, was auch Precht bestätigte, indem er bemerkte, dass Dinge, für die man früher “richtig auf die Mütze gekriegt” habe, plötzlich wieder sagbar seien. Doch diese Feststellung war für Lanz lediglich die Ruhe vor dem Sturm, die ihn zu seinem eigentlichen Punkt führte: Unabhängig von einer temporären Entspannung müssen wir in Deutschland dringend lernen, “verdammt noch mal ein bisschen was auszuhalten.”
Hier kippte die Diskussion in einen emotionalen Frontalangriff. Lanz’ Zorn richtete sich gegen die sofortige und überzogene Erregung, die jeden kritischen oder abweichenden Impuls im Keim erstickt. Der Höhepunkt seiner Entladung war unmissverständlich: “Mir geht manchmal diese Memmenhaftigkeit wirklich auf den Geist. Geht mir unfassbar auf den Geist.” Das Wort “Memmenhaftigkeit” – ein Vokabel, das Feigheit, Weinerlichkeit und mangelnde Resilienz impliziert – ist in diesem Kontext nicht nur ein persönlicher Ausdruck der Empörung, sondern eine vernichtende Diagnose der aktuellen Debattenkultur. Es ist die Anklage gegen eine Gesellschaft, die Meinungsverschiedenheiten nicht mehr als notwendigen Bestandteil der Demokratie, sondern als persönlichen Angriff wahrnimmt und mit sofortigem, lautstarkem Protest beantwortet.
Die Lektionen der Pandemie: Der Fall Streeck
Lanz untermauerte seine Wut mit einem konkreten Beispiel, das tief in seiner eigenen beruflichen Erfahrung wurzelt: die Corona-Pandemie. Er erinnerte an die massive Kritik, die er und sein Team einstecken mussten, als sie den Virologen Hendrik Streeck in die Sendung einluden. Streeck, der im Verlauf der Pandemie oft differenziertere, manchmal von der vorherrschenden Regierungslinie abweichende Positionen vertrat, wurde in Teilen der Öffentlichkeit und Medien als unerwünschte Stimme oder gar als Gefahr dargestellt. Lanz wehrte sich vehement gegen diese Form des Ausschlusses: “Ich habe mir nie einreden lassen wollen, warum es jetzt irgendwie des Teufels sein soll, Hendrik Streeck einzuladen. Das habe ich nie kapiert.”
In dieser Verteidigung liegt das journalistische Selbstverständnis des Moderators begründet: Es ist die Pflicht des Journalismus, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, gerade die, deren Standpunkte unpopulär oder unbequem sind. Lanz betonte mit Nachdruck, dass Meinungen wie die von Streeck “wirklich auch einfach mal aushalten” müsse. Die Unfähigkeit, dies zu tun, sah er als direkten Beweis für die von ihm beklagte “Memmenhaftigkeit”. Die Kritik an der Einladung eines Wissenschaftlers, dessen Thesen zwar kontrovers waren, aber auf wissenschaftlichen Daten basierten, entlarvte in Lanz’ Augen eine erschreckende Tendenz zur Monopolisierung der Wahrheit und zur Delegitimierung jeder abweichenden Expertise.

Der Mechanismus der Erregung: Prechts Analyse der Normalisierung
Richard David Precht lieferte die philosophische und analytische Ergänzung zu Lanz’ emotionalem Ausbruch. Er bestätigte den Mechanismus, dass bei großen Skandalen oder Krisen der Meinungsraum “ganz, ganz stark” schließe, bevor er sich allmählich wieder öffne. Precht nutzte ebenfalls die Coronakrise als Paradebeispiel. Er erinnerte daran, dass die “Erregung am Anfang bei Corona riesengroß war”, was auch ihn und Lanz selbst zu Zielscheiben massiver Kritik machte, während man heute “ganz, ganz viel sagen” könne.
Doch diese Dynamik beschränkt sich nicht auf die Pandemie. Precht nannte weitere Themen von größter politischer Brisanz, bei denen sich der Meinungsraum scharf verengte: Migration, der Konflikt in Israel und der Ukrainekrieg. Auch beim Ukrainekrieg sei es in den ersten Wochen oder Monaten “fast unmöglich” gewesen, kritische Einwände gegen die Haltung des Westens vorzubringen. Diese wurden mit “massiven Anfeindungen” beantwortet. Precht konstatierte jedoch, dass “ganz allmählich, sehr langsam allerdings, eine leichte Normalisierung der Diskussion losgeht.”
Dieses Muster – anfängliche emotionale Erregung, Schließen des Diskursraumes, massive Anfeindung und langsame, schmerzhafte Normalisierung – beschreibt einen Teufelskreis der öffentlichen Debatte. Die Gesellschaft reagiert auf Krisen nicht mit Besonnenheit und intellektueller Offenheit, sondern mit Affekt und dem Drang zur sofortigen moralischen Verurteilung. Die Stimme des Dissenters wird nicht als notwendiges Korrektiv, sondern als Verrat am Konsens wahrgenommen.
Journalistische Verantwortung vs. Moralischer Imperativ
Lanz’ Wut ist daher nicht nur ein Ausdruck persönlicher Erschöpfung, sondern eine Verteidigung des journalistischen Auftrags in einer Zeit, in der Haltungsjournalismus droht, die kritische Distanz zu überwuchern. Sein Beharren darauf, alle “möglichen Seiten zu Wort kommen zu lassen”, ist eine Absage an die Vorstellung, dass Talkshows oder Medien generell eine moralische “richtige” Linie vorgeben müssen.
Die Konsequenz der von Lanz kritisierten “Memmenhaftigkeit” ist eine Verarmung des Diskurses. Wenn kritische Stimmen aus Angst vor einem Shitstorm oder der sofortigen emotionalen und moralischen Abwertung verstummen, verliert die Gesellschaft ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Die Komplexität von Themen wie dem Ukrainekrieg (mit seiner Mischung aus geopolitischen, historischen und militärischen Perspektiven) oder der Migrationspolitik (mit ihren ethischen, logistischen und sozialen Herausforderungen) erfordert eine intellektuelle Robustheit, die das “Rumheulen” bei jedem Gegenwind ausschließt.
Lanz’ Ausbruch ist daher ein Plädoyer für mehr intellektuelle Härte und die Wiederentdeckung der Tugend des Aushaltens. Es ist ein Aufruf, sich nicht von der kollektiven Erregung mitreißen zu lassen, sondern die eigene Urteilsfähigkeit zu bewahren und die Meinungen anderer zu prüfen, anstatt sie reflexartig zu verdammen.

Die toxische Debattenkultur: Ein Appell für Resilienz
In der Tat hat sich die Debattenkultur in den letzten Jahren dramatisch verändert. Anstelle des sachlichen Disputs tritt oft der moralische Vorwurf. Wer abweicht, ist nicht nur falsch informiert, sondern moralisch verwerflich. Diese Moralisierung des Diskurses führt zu jener “Memmenhaftigkeit”, die Lanz so sehr auf den Geist geht. Es ist eine Kultur, die kein Ringen um die beste Lösung, sondern eine moralische Inquisition duldet.
Die Ironie des Ganzen ist, dass gerade in einer Demokratie, die von der Vielfalt der Meinungen lebt, die Toleranz für den Dissens schwindet. Lanz, der in seiner Karriere oft selbst zum Spiegel und zur Zielscheibe der öffentlichen Meinung wurde, nutzt nun seine Plattform, um gegen diese toxische Entwicklung anzukämpfen. Sein “Ich habe die Nase voll” ist das Gefühl vieler in Deutschland, die sich nach einer Rückkehr zu einem rationalen, faktenbasierten und vor allem widerstandsfähigen Meinungsaustausch sehnen.
Sein Geständnis, dass er Kritik an seinen Gästen “nie kapiert” hat, ist letztlich die höchste Form der Verteidigung der Pressefreiheit. Es impliziert, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft keinen Konsens darüber geben darf, welche Meinungen “des Teufels” sind und welche nicht. Alle relevanten Standpunkte müssen im Diskurs verhandelt werden, und die Zuhörer müssen die intellektuelle Reife besitzen, diese auszuhalten und selbst zu bewerten.
Markus Lanz’ ungewöhnlich scharfer Ton im Podcast mit Precht ist mehr als nur ein Medienspektakel. Es ist das laute Wutgeheul eines Moderators, der die Erosion des freien Diskurses in Deutschland nicht länger hinnehmen will. Sein Appell für das “Aushalten” und seine Kritik an der “Memmenhaftigkeit” sind ein unmissverständlicher Aufruf an die Öffentlichkeit, die emotionale Rüstung abzulegen und die intellektuelle Herausforderung des abweichenden Standpunktes anzunehmen, bevor der Meinungsraum unwiderruflich geschlossen wird. Die Frage, die nun im Raum steht, ist, ob die Debattenkultur in Deutschland die nötige Resilienz besitzt, um dieser schonungslosen Selbstkritik standzuhalten.