Der Schatten über Berlin: Ein ungelöster Fall als Mahnmal
Sechs lange Jahre sind vergangen, und der Name Rebecca Reusch ist in Deutschland zu einem Synonym für Ungewissheit, Verzweiflung und ein tief sitzendes Versagen geworden. Ein ganzes Land schwankt zwischen der Hoffnung auf Aufklärung und der Resignation angesichts eines Falls, der scheinbar keine Spuren hinterließ. Die Spuren führten ins Nichts, Verdachtsmomente verpufften, und die Zeit schien die Wahrheit Schicht um Schicht zu begraben – wie Staub auf einem ungelösten Geheimnis. Doch jetzt meldet sich eine Stimme zu Wort, die in der deutschen Kriminalistik als die letzte Instanz gilt: Axel Petermann.
Der Mann, der Mörder aus winzigen Details entlarvte, wo andere längst aufgegeben hatten, bricht nun ein ungeschriebenes Tabu. Seine Aussage wirkt wie ein elektrischer Schlag in der festgefahrenen Debatte um Schuld und Unschuld des Schwagers Florian R.: “Ja, dieser Fall kann noch gelöst werden.” Doch es ist nicht nur dieser Funken Hoffnung in einem dunklen Raum voller Skepsis, der Petermanns Einlassungen so brisant macht. Es ist seine radikale und tiefenpsychologische Analyse der Ermittlungsarbeit selbst, die uns zwingt, die gesamte Logik des Falls neu zu bewerten. Axel Petermann war nie Teil der offiziellen Ermittlungen, doch seine jahrzehntelange Erfahrung am Morddezernat Bremen macht seine Einschätzung zum wertvollsten Blick von außen. Er kennt die Muster, die Fehler, die Denkfallen, die sich in sechs Jahren Polizeiarbeit unweigerlich gebildet haben. Die Wahrheit, so deutet er an, liegt nicht in neuen Beweisen, sondern in einer neuen Art, auf die alten Spuren zu blicken. Ein Ansatz, der im Kern die Frage stellt: Haben wir uns alle in der falschen Geschichte verrannt?

Der Fluch der Vertrautheit: Als das Zuhause zum Labyrinth wurde
Das zentrale Problem im Fall Rebecca Reusch liegt für Petermann in der Konstellation des Tatorts. Das Verbrechen geschah nicht in einem anonymen Hotelzimmer oder einem Parkhaus, sondern in einem Zuhause. Ein Zuhause, das Opfer und Hauptverdächtiger – Rebecca und ihr Schwager Florian R. – lange Zeit miteinander teilten. Genau dieser Umstand, der eigentlich für die Kriminaltechnik ein Segen sein sollte, wurde zum Fluch: dem „Fluch der Vertrautheit“.
In einem Zuhause hinterlässt jeder Spuren: Unschuldige ebenso wie Schuldige. Fingerabdrücke, Hautschuppen, Haare – alles, was sonst als forensischer Glücksfall gilt, wird hier bedeutungslos. Wenn Opfer und Verdächtiger denselben Raum teilen, wird die Wahrheit leiser, erklärt der Kriminalist. Die Ermittler standen vor einer Flut von Spuren, doch keine davon sprach laut genug. Sie fanden die DNA beider Personen im Haus. Doch was beweist das? Die Kriminalistik spricht von Mischspuren, wenn DNA-Proben verschiedener Personen sich überlagern. In den meisten Fällen sind sie ein Segen; in einem Haushalt, in dem „alles kontaminiert“ ist, werden sie zum Fluch. Der Unterschied zwischen Alltag und Tat wurde unmöglich zu erkennen.
Diese Mischung aus Nähe und Normalität machte die Arbeit der Beamten fast unmöglich. Während draußen Medien und Hobby-Ermittler nach einem Täter suchten, kämpften die Ermittler drinnen mit einem Beweisbild, das nichts beweisen konnte. Petermann nennt das eine der größten Fallen moderner Ermittlungsarbeit: Man glaubt viel zu wissen und übersieht, dass man nichts weiß. Die Tragödie lag nicht im Dunkeln, sondern in einem Offensichtlichen, das niemand mehr beachtete. Die Beziehung zwischen der Familie und der Polizei kühlte ab, Misstrauen wuchs, und die Ermittler traten auf der Stelle, eine Situation, die Petermann oft gesehen hat. Er weiß, dass sich Vertrauen in einem Fall wie diesem schneller zersetzt als jede Spur. Dennoch betont er, dass gerade diese emotionale Distanz manchmal der Schlüssel sein kann. „Man darf nicht lieben, was man untersucht“, sagt er, „sonst sieht man nur, was man sehen will.“
Das Rätsel des Bademantelgürtels und die Sackgasse der Indizien
Trotz dieser forensischen Sackgasse gab es dieses eine Detail, das für viele bis heute Symbolcharakter hat: der verschwundene Bademantelgürtel. Ein scheinbar harmloser Alltagsgegenstand, plötzlich zum zentralen Rätsel eines Mordfalls. Der Gürtel fehlte aus dem Badezimmer von Rebeccas Schwester, und niemand konnte erklären, warum. Petermann weiß, dass manchmal die banalsten Dinge den Unterschied machen. Theoretisch könnte dieser Gürtel als Tatwerkzeug verwendet worden sein – zum Würgen oder Fesseln. Doch ohne das Objekt selbst bleibt es nur eine Hypothese. Wäre der Gürtel gefunden worden, mit DNA-Spuren beider Personen an bestimmten Stellen, hätte das eine neue Dimension eröffnet. Doch nichts dergleichen geschah. Keine Leiche, kein Tatwerkzeug, kein eindeutiger Tatort – nur Spuren, die zu viele Deutungen zuließen. Genau das, sagt Petermann, sei die größte Tragödie solcher Fälle: Man kann alles hineinlesen, wenn man nichts genaues weiß.
Auch die Succhaaktionen auf dem Grundstück der Großeltern des Schwagers brachten keine Klarheit. Wieder und wieder wurde gegraben, mit Spürhunden und Bodenradar, doch jedes Mal blieb die erhoffte Entdeckung aus. Und selbst wenn man dort etwas gefunden hätte, betont Petermann, wäre das kein endgültiger Beweis gewesen, Stichwort: Sekundärtransfer. Die Möglichkeit, dass Spuren unbeabsichtigt von einem Ort zum anderen getragen werden, macht jede Spur zu einer potenziellen Lüge. Florian R. hätte selbst, wenn er unschuldig wäre, ein Haar oder Kleidungsstück von Rebecca dorthin bringen können, ohne es zu merken, oder Rebecca war selbst lange vor ihrem Verschwinden auf diesem Grundstück. An diesem Punkt, so Petermanns knallharte Analyse, scheitern viele Ermittlungen: Sie wollen zu früh zu viel wissen. In den Akten findet man über 1000 Seiten an Berichten, Zeugenaussagen und Analysen, aber sie ergeben kein Bild, das Sinn ergibt.

Die radikale Therapie: Warum der Fall „frisches Blut“ braucht
Mitten in diesem Nebel der Ungewissheit kommt Petermann und liefert eine bittere Diagnose: Der Fall sei nicht unlösbar, er sei nur festgefahren. Und dieses Festfahren, so seine Überzeugung, ist das Ergebnis einer inneren Logik des Systems selbst. Nach sechs Jahren sei es für die Ermittler fast unmöglich, objektiv zu bleiben. Jeder Gedanke, jede Theorie verfestigt sich und wird irgendwann zur unsichtbaren Mauer zwischen Wahrheit und Wahrnehmung. Man glaubt die Lösung zu sehen und erkennt nicht, dass man im Kreis läuft.
Sein Vorschlag ist radikal und hat für Aufsehen gesorgt: Das gesamte Ermittlerteam austauschen. Ein neues Team, unbelastet, unvoreingenommen, mit einem klaren Blick. Er argumentiert, dass es keine Schande sei, wenn ein Ermittler nach Jahren den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehe: „Man kann nicht ewig im Nebel stehen und hoffen, dass die Sonne zurückkommt.“ Petermann nennt diesen Zustand die „Betriebsblindheit des Gewissens“ . Ermittler, die zu lange an einem Fall arbeiten, entwickeln eine emotionale Bindung zur eigenen Arbeit. Jeder Misserfolg fühlt sich an wie persönliches Versagen. Diese mentale Erschöpfung lähmt ganze Abteilungen.
Sein Vorschlag ist kein Affront, sondern eine Notwendigkeit. Neue Köpfe könnten alte Spuren mit anderen Augen sehen. Vielleicht würde jemand einen Bericht lesen, den alle überflogen haben, vielleicht würde ein junger Kollege eine Verbindung erkennen, die jahrelang ignoriert wurde. Für Petermann ist dieser Neuanfang kein Angriff, sondern eine Notwendigkeit: „Manchmal muss man die Vergangenheit loslassen, um sie zu verstehen.“
Ein guter Ermittler, so Petermanns Credo, hat den Mut, sich zu irren. Er fordert, den Fall Rebecca als Experiment zu betrachten: eine Chance, neue Methoden zu testen, etwa digitale Rekonstruktionen des Tatorts, psychologische Simulationen und moderne KI-gestützte Profilanalysen. Deutschland, so Petermann mit leiser Ironie, habe ein Problem mit dem Loslassen. Zu oft halte man an veralteten Strukturen fest, zu oft vertraue man mehr auf Akten als auf Instinkt. Dabei sei es gerade der Instinkt, der am Anfang jedes Falls steht: das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Dieses Gefühl, glaubt Petermann, sei bei Rebecca irgendwann verloren gegangen. Stattdessen hätten sich Zahlen, Spuren und Hypothesen überlagert, bis niemand mehr wagte, etwas zu fühlen. Doch ohne Gefühl, warnt er, verliert man das Opfer aus den Augen. Die Wahrheit ist nicht nur eine Frage der Objektivität, sondern ihrer Voraussetzung: der Menschlichkeit.
Der Tabubruch: Was, wenn Rebecca noch lebt?
Und dann folgt der wohl schockierendste Moment in Petermanns Analyse, die Frage, die in Deutschland lange als unzulässig galt: „Was, wenn Rebecca gar nicht tot ist?“. Der Satz fällt leise, doch er detoniert wie eine Bombe. Für viele ist das nach all den Jahren und zerstörten Hoffnungen undenkbar. Doch Petermann meint es ernst. Er verweist auf Fälle, in denen Menschen nach Jahren wieder auftauchten – aus Angst, Zwang oder psychologischen Gründen. Solange keine Leiche gefunden wurde, sagt er, müssen wir beide Möglichkeiten denken: Leben und Tod.
Diese Haltung macht ihn unbequem und genau deshalb relevant. Sie zwingt alle Beteiligten, das Undenkbare zuzulassen: dass vielleicht nicht ein Mord vertuscht wurde, sondern ein Verschwinden, das niemand verstehen wollte. Petermann erinnert daran, dass viele sogenannte Cold Cases genau dann gelöst wurden, als man sich traute, das Offensichtliche zu hinterfragen. Der menschliche Geist, so Petermann, ist fähig, die Realität selbst zu löschen, wenn sie zu schmerzhaft wird. In seinem Blick liegt kein Spektakel, sondern Erfahrung.
Wurde Rebecca in eine Situation gebracht, aus der sie keinen Ausweg sah? Hat sie sich versteckt? Vielleicht wurde sie versteckt, vielleicht wollte jemand sie schützen oder zum Schweigen bringen. In diesem Netz aus Möglichkeiten schimmert eine Wahrheit: Der Fall ist nicht abgeschlossen, weil er nie wirklich verstanden wurde.
Die Loverboy-Theorie und die unsichtbare Gefangenschaft
Petermann fordert, dass man das Profil der Vermissten neu aufrollt – nicht aus kriminaltechnischer, sondern aus menschlicher Sicht. Was, wenn sie in einer Abhängigkeit geriet – psychologisch, emotional, vielleicht digital? Er spricht von neuen Formen der Gefangenschaft, unsichtbar, aber real. Manipulation, Online-Kontrolle, Erpressung über soziale Netzwerke.
Die Loverboy-Theorie, einst abgetan, bekommt in diesem Licht eine neue Bedeutung: nicht als Beweis, sondern als Hinweis, dass man zu früh aufgehört hat, nach einer anderen Wahrheit zu suchen. Petermann verweist auf die fehlenden digitalen Spuren – Chats, Browserverläufe, Standortdaten – und sieht darin nicht das Ende der Theorie, sondern ihren Anfang. Wenn nichts mehr da ist, muss man fragen: Warum wurden die Daten gelöscht, und wenn ja, von wem? Das plötzliche Schweigen des Handys, die Aktivität im WLAN, der mysteriöse Router-Reset – für Petermann keine Zufälle, sondern digitale Schatten eines Ereignisses, das wir noch nicht verstanden haben.
Der Kriminalist warnt davor, dass sich die Ermittlungen durch den Fokus auf den Schwager selbst blockiert haben könnten: „Wenn man den Täter sucht, bevor man das Opfer versteht, findet man beides nicht.“ Was wussten wir wirklich über Rebecca, über ihr Leben und ihre Ängste? Öffentlich wurde sie zur Projektionsfläche: das unschuldige Mädchen, das Opfer, die Tochter. Doch wer war sie in Wirklichkeit? Petermanns Forderung ist ein Aufruf zur Menschlichkeit in der Ermittlungsarbeit: Man kann keine Wahrheit finden, die man nicht spürt.
Das Schweigen als Botschaft und die Entscheidung für die Hoffnung
Der Fall Rebecca Reusch ist für Axel Petermann kein Kriminalfall mehr, sondern ein Symptom, ein Spiegel einer Gesellschaft, die schnelle Antworten liebt und komplexe Wahrheiten fürchtet. „Wir wollen Täter, keine Geschichten“, sagt er bitter. Doch jede Tat ist eine Geschichte, und jede Geschichte, die man abkürzt, tötet die Wahrheit ein zweites Mal.
Sein wichtigster Satz zum Schluss: „Vielleicht ist das Schweigen selbst die Botschaft.“ Ein ungelöster Fall ist wie ein Spiegel – er zeigt nicht nur, was wir nicht wissen, sondern auch, was wir nicht wissen wollen. Die Polizei hat gesucht, die Familie gehofft, die Öffentlichkeit geurteilt. Doch was bleibt, ist ein Mädchen, das nie gefunden wurde, und eine Gesellschaft, die zwischen Empathie und Erschöpfung pendelt.
Axel Petermann spricht nicht von Schuld oder Unschuld, sondern von Demut. Die Wahrheit gehört niemandem, sie wartet nur. Die größte Lektion dieses Falles ist paradox: Man lernt manchmal mehr, wenn man Fragen stellt, als wenn man Antworten findet. Die Hoffnung, sagt Petermann, ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung. Und solange diese Entscheidung getroffen wird, solange weiterhin Fragen gestellt werden – von Ermittlern, Journalisten, von jedem, der hinschaut –, ist der Fall Rebecca Reusch nicht beendet. Er ist lebendig wie eine offene Wunde, die mahnt, nicht zu vergessen. Manchmal, so Petermann zum Schluss: „Sei das Wichtigste, was man tun kann, einfach weiter zu fragen.“
Die Wahrheit ist selten bequem, aber sie ist die Verpflichtung, die bleibt. Und solange diese Verpflichtung besteht, ist der Fall Rebecca Reusch nicht verloren. Er wartet nur darauf, dass jemand den Mut hat, neue Fragen zu stellen, anstatt nur nach alten Antworten zu suchen.