Der schwere süßliche Geruch von Bonerwachs und altem Holz hing in der Luft des großen Saals. Es war fast Mitternacht im Heidelberger Konservatorium, einem der ehrwürdigsten Musiktel Deutschlands. Die Stille war fast vollkommen, nur unterbrochen vom rhythmischen Schmatzen eines Wischmobs auf dem markellosen Marmorboden.

 

Der schwere süßliche Geruch von Bonerwachs und altem Holz hing in der Luft des großen Saals. Es war fast Mitternacht im Heidelberger Konservatorium, einem der ehrwürdigsten Musiktel Deutschlands. Die Stille war fast vollkommen, nur unterbrochen vom rhythmischen Schmatzen eines Wischmobs auf dem markellosen Marmorboden.
Lena Schmidt schob den schweren Eimer vor sich her. Ihr Spiegelbild verzerrte sich in der feuchten Oberfläche. Ihre Hände, rot und rissig vom Putzwasser, umklammerten den Holzstil. Vor wenigen Stunden erst hatten diese Hallen von den Klängen einer Brahs Symfonie wiedergeheilt, gespielt von Studenten, deren Geigenkoffer mehr kosteten, als Lena in einem ganzen Jahr verdiente. Lena war eine Geisterstudentin.
Tagsüber war sie Fräulein Schmidt, die stille Stipendiatin, die in der hintersten Reihe saß, mitschrieb und versuchte unsichtbar zu sein. Ihr Stipendium, ein wages Erbe eines längst vergessenen Gönners, deckte kaum die Bücher. Nachts wurde sie zu Lena, der Putzkraft, Teil des Teams, das sie und ihre Mutter Hanna bildeten.
Sie wischte den Staub von den Flügeln, auf denen Studenten sorglos ihre Fingerabdrücke hinterließen. Sie lehrte die Papierkörbe, die mit zerknüllten Notenblättern überquollen, Frustrationen, die sich andere leisten konnten. Ihr Blick fiel auf einen Scellokasten aus Carbonfaser, der achtlos neben einer Säule vergessen worden war.
Er gehörte Maximilian von Strauß. Lena wusste das, weil sein Name in dezenten Goldbuchstaben darauf eingeprägt war. Sie fuhr mit dem Finger über das kalte glatte Material. Ein Instrument wie dieses war ein Versprechen für eine Zukunft. Ihre Realität war der Geruch von Desinfektionsmitteln.
Sie beendete ihre Arbeit im Hauptgebäude und ging durch die kühle Nachtluft zu ihrer Wohnung. Es war keine richtige Wohnung, eher ein ausgebauter Dachboden über einer kleinen Bäckerei in einer Seitengasse. Der Duft von Hefe und Laugenbreetzeln, der normalerweise tröstlich war, hing heute schwer in der Luft. Sie stieg die knarrende Treppe hinauf und öffnete leise die Tür.
Hannah, ihre Mutter, war in dem alten Sessel am Fenster eingeschlafen. Das bläuliche Licht eines stumm geschalteten Fernsehers tanzte über ihr Gesicht und betonte die tiefen Schatten unter ihren Augen. Auf dem kleinen Küchentisch lag ein Stapelpost. Ganz oben wie ein lauernder Hai lag ein Umschlag vom Universitätsklinikum Heidelberg.
Er war nicht weiß, sondern von jenem unangenehmen blassroten Farbton. Der letzte Mahnung schrie. Lena nahm den Brief. Ihre Hände zitterten leicht, sie öffnete ihn. Die Zahlen schienen auf der Seite zu schwimmen. Es war eine Summe, die so astronomisch war, dass sie jegliche Bedeutung verlor. Es war keine Rechnung mehr. Es war ein Urteil.
Hannas chronische Lungenerkrankung war ein unersättliches Tier, das jeden Cent verschlang, den sie verdienten. Ein leiser trockener Husten kam aus dem Sessel. Hanna rührte sich. Lena, bist du das, Schatz? Ich bin’s, Mama”, sagte Lena leise und ließ den Brief schnell in ihrer Tasche verschwinden. “Alles gut, schlaf weiter.
” “Du arbeitest zu viel, mein Kind”, murmelte Hanna, schon wieder halb im Schlaf. “Du musst dich auf dein Studium konzentrieren. Deine Oma Greta, sie hätte gewollt, dass du singst.” Lena schluckte den Klos in ihrem Hals hinunter. singen. Das war das Wort, das wie eine verbotene Frucht in ihrem Leben hing. Oma Greta, die ihr Talent erkannt hatte, bevor Lena es selbst tat.
Sie war vor zwei Jahren gestorben, aber ihre Stimme lebte in Lena weiter. Es war ein Erbe, das sowohl ein Segen als auch eine unerträgliche Last war. Lena stellte ihren Wecker nicht auf 7 Uhr für die Vorlesung, sondern auf 4 Uhr früh. Der Himmel über dem Necker war noch tintenschwarz, als Lena sich aus dem Haus schlich.
die kalte Morgenluft bis in ihre Wangen. Sie ging nicht zur Bäckerei, um sich ein Brötchen zu holen. Sie ging zurück zum Konservatorium. Sie benutzte nicht den Haupteingang, sondern eine kleine Seitentür, für die sie einen Mitarbeiterschlüssel besaß. Sie ging durch die schlafenden Korridore zu dem ältesten Teil des Gebäudes, der kleinen, fast vergessenen Kapelle.
Sie wurde nie benutzt. Der Staub lagentimeter dick auf den Kirchenbänken, aber die Akustik war perfekt. Ein einzelner Mondstrahl fiel durch ein hohes Buntglasfenster und traf das Zentrum des kleinen Altarraums. Das war ihre Bühne. Das war ihre Kirche. Lena atmete tief ein, spürte, wie sich die kalte Luft in ihrer Lunge ausdehnte.
Sie dachte an Oma Greta, an ihre warmen Hände auf den Klaviertasten, an ihre Worte: “Sing nicht mit der Kehle, Lena, sing mit der Erde unter deinen Füßen und dem Himmel über deinem Kopf.” Und dann sangen sie. Es war kein lauter Gesang. War es nur ein Summen, dann ein einfaches Wiegenlied von Brahams. Guten Abend, gute Nacht. Ihre Stimme war kein Produkt technischer Ausbildung, die sie sich nicht leisten konnte.
Sie war etwas ursprüngliches. Sie war klar wie ein Bergsee, reich an Obertön und durchdrungen von einer Traurigkeit, die weit über ihre jungen Jahre hinausging. In dieser einen Stunde von 4:30 bis 6:30 Uhr war sie keine Putzfrau. Sie war keine unsichtbare Studentin. Sie war eine Künstlerin. Sie sang für ihre Mutter, für Oma Greta, für sich selbst.


Als der erste graue Schimmer der Morgendämmerung das Fenster berührte, verstummte sie. Sie zog ihre Arbeitsjacke wieder an, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und ging, um die Kaffeemaschinen im Dozentenzimmer vorzubereiten. Stunden später saß sie im Seminar moderne Harmonielehre. Der Raum war überhitzt und roch nach teurem Parfüm und Kaffee.
Frau Professor Wagner, die Leiterin der Vokalabteilung, stand vorne. Sie war eine Frau wie eine Rasierklinge, gekleidet in markelloses Schwarz, ihre Brille auf der Nasenspitze balancierend. Sie duldete keine Mittelmäßigkeit. Die Interpretation der Romantik dozierte sie. Ihre Stimme schnitt durch die träge Vormittagsluft. Er fordert nicht nur technisches Können, sondern intellektuelle Stränge.
Viele scheitern daran. Ihr Blick wanderte über die Studenten, die Söhne und Töchter von Industriellen, Anwälten und Politikern. In der ersten Reihe lümmelte Maximilian von Strauß. Er trug einen Kaschmirpullover, der wahrscheinlich mehr kostete als Hannas Krankenhausrechnungen eines Monats.
Er war der unangefochtene Prinz des Konservatoriums, brillant, charismatisch und unerträglich arrogant. Neben ihm saß seine Freundin Sophie, die ihre manikürten Nägel betrachtete, als wäre die Vorlesung eine persönliche Beleidigung. Frau Wagner spielte eine Aufnahme einer berühmten Schubertare. Herr von Strauß, sagte sie. Ihre Analyse? Maximilian richtete sich lässig auf.
“Nun, Frau Professor”, sagte er, “Seine Stimme war sanft und selbstsicher. Der Tenor übertreibt. Es fehlt ihm das nötige Sturm und Dranggefühl in der oberen Passage. Er drückt zu sehr, anstatt die Emotion aus der Dynamik entstehen zu lassen. Ein typischer Fehler.” Die Klasse nickte bewundernd. Frau Wagner lächelte dünn. Hinten im Raum erstarrte Lena.
Sie kannte die Aufnahme, sie kannte die Partitur. Oma Greta hatte sie ihr gezeigt. Maximilians Analyse klang klug, aber sie war fundamental falsch. Bevor sie ihren Mund halten konnte, rutschten ihr die Worte heraus. Sie waren kaum lauter als ein Flüstern, aber in der plötzlichen Stille nach Maximilians Vortrag klang sie wie ein Schrei.
Es ist nicht der Tenor. 40 Köpfe drehten sich um. 40 Paar Augen starrten auf die unsichtbare Studentin in der letzten Reihe. Maximilians Lächeln gefror. Sophies Kopf schnellte herum. Ihre Augen verengten sich zu schlitzen. Frau Professor Wagenes Gesicht wurde zu einer Maske aus Eis. Wie bitte, Fräulein Schmidt? Lenas Gesicht brandte. Es fühlte sich an, als würde ihr Blut zu Lava.
Sie wollte versinken, verschwinden. Ich meinte nur, stammelte sie. Sprechen Sie lauter, befahl Frau Wagner. Es ist nicht der Tenor, wiederholte Lena. Ihre Stimme zitterte, war aber klar. Die Aufnahme, sie wurde transponiert. Es ist die falsche Tonart. Die Arie ist ursprünglich für einen Bariton geschrieben.
Der Tenor muss die hohen Töne pressen, weil sie nicht für seine Stimmlage gedacht sind. Es ist kein Interpretationsfehler, es ist es ist einfach die falsche Besetzung. Das Schweigen im Raum war absolut. Ein Student ließ einen Stift fallen und das Geräusch klang wie ein Pistolenschuss.
Lena hatte nicht nur einen Studenten korrigiert, sie hatte Maximilian von Strauß korrigiert, den Maximilian, dessen Familie einer der Hauptsponsoren des Konservatoriums war. Maximilian starrte sie an. Er war nicht wütend, er war fasziniert. Es war, als hätte eines der Möbelstücke plötzlich angefangen zu sprechen.
Er stand langsam auf, er war groß und seine lässige Haltung war einer gefährlichen Stille gewichen. Fräulein Schmidt, sagte er und seine Stimme war jetzt seidig, eine echte Expertin versteckt in der letzten Reihe. Er ging an Frau Wagner vorbei, die zu versteinert war, um einzugreifen. Er ging zu einem Regal, das mit schweren ledergebundenen Notenbänden gefüllt war. Er zog einen dicken Band heraus, Schubert, sämtliche Lieder.
Er blätterte dramatisch darin, als suche er etwas bestimmtes. Er blieb bei einer Seite stehen, die berüchtigt war. Eine Seite, die aussah, als hätte jemand einen Schwarm wütender Bienen auf das Notenpapier losgelassen. Er riss die Seite heraus. Das Geräusch des reißenden Papiers war ohrenbetäubend. Frau Wagner schnappte nach Luft, sagte aber nichts.
Maximilian ging langsam den Gang entlang, Schritt für Schritt, bis er vor Lenas kleinem Pult stand. Die ganze Klasse hielt den Atem an. Lena saß da, unfähig sich zu bewegen, gefangen im Blick seiner eisblauen Augen. Er ließ das Notenblatt auf ihr Pult flattern. Es landete wie ein Todesurteil. Der Erlkönig, sagte Maximilian. Lena starrte auf die Noten. Sie kannte das Lied. Jeder kannte es.
Es war kein Lied, es war ein Drama für eine einzige Stimme, ein Erzähler, ein Vater, ein sterbendes Kind und der unheimliche Erlkönig selbst. Vier verschiedene Charaktere, vier verschiedene Emotionen, alle verwoben in einem rasenden Ritt durch die Nacht. Es war technisch ein Albtraum und emotional ruins. Sie wissen ja so viel über die richtige Stimmlage, Fräulein Schmidt, spottete Maximilian. Dann beweisen sie es.
Sophie kicherte jetzt ein hohes, bösartiges Geräusch. Max, sei nicht albern. Sie kann nicht einmal eine Rolle singen. Geschweige den vier. Nein, nein! Sagte Maximilian und hob eine Hand. Ich habe eine bessere Idee. Er lehnte sich zu Lena vor. Sein teures Rasierwasser stieg ihr in die Nase.
Sein Lächeln war charmant und absolut grausam. “Hier ist mein Angebot”, sagte er, laut genug, “damit der ganze Raum es hören konnte. Singen Sie das beim Heidelberger Frühlingswettbewerb nächsten Monat. Jede einzelne Stimme, den Vater, den Sohn, den Erzähler und den Erlkönig. Wenn Sie das schaffen, wenn Sie diese Bühne betreten und dieses Lied singen.
Er lachte kurz, ein Geräusch ohne jede Fröhlichkeit. Dann heirate ich Sie nicht nur. Ich bezahle ihre gesamte Karriere. Ich schicke Sie nach Berlin, nach Wien, wohin Sie wollen. Er hielt inne, sein Blick wurde steinhart. Aber wenn Sie es nicht tun, oder wenn Sie es versuchen und versagen, was sie tun werden, dann packen sie ihre Sachen, geben ihr Stipendium zurück und putzen den Rest ihres Lebens Toiletten. Aber nicht hier. Die Klasse explodierte.
Einige lachten schallend, andere hielten schockiert die Luft an. Mehrere Handys wurden gezückt. Die Kameras auf Lenas knallrotes Gesicht gerichtet. Sie starrte auf die unmöglichen Noten. Der Erlkönig. Es war keine Einladung, es war eine Hinrichtung. Haben wir einen Deal, Fräulein Putzfrau? flüsterte Maximilian. Lena sah von den Noten auf. Sie sah sein spöttisches Grinsen. Sie sah Sophies triumphierendes Gesicht.
Sie sah Frau Wagners kalte Verärgerung und dann sah sie durch sie alle hindurch zu dem blassroten Umschlag auf ihrem Küchentisch. Sie sah das müde Gesicht ihrer Mutter. Sie wußte noch nichts von dem Hauptpreis des Wettbewerbs. Sie wußte nur, daß sie gerade öffentlich gedemütigt worden war.
Ihr Instinkt schrie sie an zu rennen, sich zu entschuldigen, aber dann dachte sie an Oma Gretas Worte: “Lass dir von niemandem sagen, wann deine Stimme zu schweigen hat, Lena.” “Niemandem.” Lena hob langsam die Hand und nahm das Notenblatt. Ihre Finger zitterten nicht mehr. Sie blickte Maximilian direkt in die Augen. Sie sagte nichts, aber ihr Schweigen war eine Antwort, die lauter war als jedes Wort.
Sie faltete das Notenblatt sorgfältig zusammen und steckte es in ihre Tasche direkt neben die Krankenhausrechnung. Sie hatte die Herausforderung angenommen. Die Seminarttür schloss sich mit einem leisen Klicken, das in Lenas Ohren wie ein Peitschenknall wiederte. Sie blieb wie angewurzelt auf ihrem Stuhl in der letzten Reihe sitzen.
Die anderen Studenten strömten an ihr vorbei. Ein Murmeln von Stimmen, ein Rascheln von teuren Taschen. Sie war das Zentrum ihrer neugierigen, mitleidlosen Blicke. Sophie, die direkt an ihrem Gangplatz vorbeiging, blieb für einen Moment stehen. Ihr Lippenstift war markelos, ihr Lächeln giftig. “Viel Glück, Aschenputtel”, zischte sie. Ich hoffe, du hast dein Hochzeitskleid schon ausgesucht.
Maximilian war bereits gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen, als wäre sie eine Fliege, die er gerade achtlos zerquetscht hatte. Erst als der Raum völlig leer war und nur noch der Geruch von Kreidestaub und teurem Parfüm in der Luft hing, konnte Lena sich bewegen. Ihre Beine fühlten sich an wie Blei. Sie floh. Sie rannte nicht in die Bibliothek oder in die Cafeteria.
Sie rannte in den nächstbesten Putzraum, einen engen fensterlosen Schrank, der nach Chlor und alten Lappen roch. Sie schloss die Tür, lehnte sich im Dunkeln dagegen und ließ sich zu Boden gleiten. Ihr Herz schlug so heftig gegen ihre Rippen, dass es weh tat. Die Demütigung war ein heißes, bitteres Gift, das sich in ihrem Magen ausbreitete.
Tränen brannten hinter ihren Augen, aber sie weigerte sich zu weinen. Sie war nicht wütend auf Maximilian. Wut war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Sie war wütend auf sich selbst. Warum hatte sie den Mund aufgemacht? Warum hatte sie geglaubt, sie hätte das Recht, in dieser Welt eine Stimme zu haben? Ihre Finger tasteten in ihrer Tasche.
Sie spürten das glatte gefaltete Notenblatt des Erlkönigs und das rauhe, billige Papier der Krankenhausrechnung. Sie holte beide heraus und hielt sie im schwachen Licht, das unter dem Türspalt hervordrang. Auf der einen Seite ein unmögliches Lied, auf der anderen Seite eine unmögliche Schuld. Sie waren zwei Seiten derselben Medaille. zwei Gefängnisse.
In diesem Moment traf sie eine Entscheidung. Es ging nicht mehr um Stolz. Es ging nicht mehr darum, Maximilian das Gegenteil zu beweisen. Es ging ums Überleben. Er hatte ihr unwissentlich eine Waffe in die Hand gedrückt. Sie wusste nur noch nicht, wie sie sie benutzen sollte. Sie verließ den Schrank. Ihr Gesicht war blass, aber ihre Haltung war fest.
Sie ging durch die große Eingangshalle des Konservatoriums. Dort hing es, ein riesiges, elegantes Banner aus Samt, bestickt mit Goldfäden, der Heidelberger Frühlingswettbewerb. Sie war schon hunderte Male daran vorbeigegangen und hatte es nie wirklich beachtet.
Es war ein Ereignis für die anderen, für die Sophies und Maximilians dieser Welt. Doch heute las sie den Text unter der Überschrift. Sie las ihn zum ersten Mal. Großer Preis, das Hans Eisler Stipendium. Lena erstarrte. Die Hochschule für Musik Hans Eisler in Berlin.
Das war nicht nur irgendeine Schule, es war der Olymp, es war der Ort, von dem Oma Greta ihr immer erzählt hatte. Sie las weiter, ihre Augen flogen über die Zeilen. Ein Vollstipendium für das Masterprogramm in Vokalperformance, inklusive eines Barpreises in Höhe von 20.000 € zur Deckung der Lebenshaltungskosten und zur Förderung der künstlerischen Entwicklung. 20.000 €. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gesogen. Sie rechnete.
Die blaßrote Rechnung in ihrer Tasche, die Kosten für die Operation, die Hanna so dringend brauchte, die aber als experimentell galt und von der Kasse nur teilweise übernommen wurde. 20.000 € waren genug. Es war mehr als genug, es war ein Rettungsboot. Maximilians grausamer Scherz hatte sich gerade in ihre einzige verzweifelte Hoffnung verwandelt. Dieser Wettbewerb war nicht länger eine Option. Er war eine Notwendigkeit. Sie kannte die Regeln.
Um sich anzumelden, brauchte man die Unterschrift eines Betreuers der Fakultät. Es gab nur eine logische Wahl. 10 Minuten später stand Lena vor dem Büro von Frau Professor Wagner. Die Tür aus Milchglas war geschlossen. Lena konnte gedämpfte Stimmen hören, dann ein hohes klares Lachen. Sophies Lachen. Die Tür wurde aufgerissen und Sophie trat heraus. Ihre Partiturmappe unter dem Arm. Sie erstarrte, als sie Lena sah.
Ihr Lächeln erstarb. Was willst du denn hier?”, fragte sie feindselig. Lena sagte nichts, ihr Blick war auf die offene Tür gerichtet. Sophie schnaubte verächtlich und stolzierte den Gang hinunter. “Herein”, kam die scharfe Stimme von Frau Wagner. Lena trat ein. Das Büro war das genaue Gegenteil von Lenas Zuhause.
Es war minimalistisch, kühl und in weiß und Grautönen gehalten. Ein riesiger Schreibtisch aus Stahl und Glas dominierte den Raum. Frau Wagner blickte von ihrem Computer auf. Ihre Augen waren hinter der Designerbrille unleserlich. “Ja, Fräulein Schmidt, ich habe nur wenige Minuten.” Lena trat vor. Das Anmeldeformular zitterte in ihrer Hand.
“Frau Professor, ich ich möchte mich für den Frühlingswettbewerb anmelden. Ich brauche Ihre Unterschrift.” Frau Wagner sah auf das Formular, dann auf Lena, als würde sie ein besonders uninteressantes Insekt betrachten. Sie lehnte sich in ihrem ergonomischen Stuhl zurück. Ein langsames, ungläubiges Lächeln spielte um ihre Lippen.
“Sie wollen singen im Wettbewerb?” “Ja, Professor.” “Kindchen”, sagte Wagner und “ndre Stimme war nun von einer herablassenden Milde, die schlimmer war als jeder Tadel. Dieser Wettbewerb ist für unsere Elite. Er ist die Visitenkarte unserer Abteilung. Er ist für Studentinnen wie Fräulein Sophie, die seit ihrem fünften Lebensjahr von den besten Tutoren Europas unterrichtet wird.
Er ist nicht für Nun ja, sie machte eine wage Geste, die Lenas gesamte Existenz umfasßte, nicht für sie. Aber ich bin Stipendiatin, begann Lena. Ihr Stipendium”, unterbrach Wagner Sikül, “stt der nächsten Liebe der Verwaltung, Fräulein Schmidt, kein Zeugnis ihres Talents. Sie haben keine Ausbildung, sie haben keine Technik, sie haben keine Bühnenpräsenz.
Sie würden sich vor den Juroren und Sponsoren lächerlich machen und was noch wichtiger ist, sie würden mich lächerlich machen. Aber die Demütigung heute, flüsterte Lena Herr von Strauß, die Demütigung haben sie sich zur Gänze selbst zuzuschreiben, sagte Wagner nun scharf. Sie haben Herrn von Strauß in meinem Seminar unterbrochen. Glaubten Sie ernsthaft, das bliebe ohne Konsequenzen? Sie haben sich ihren Platz in dieser Schule nicht verdient. Sie haben ihn geerbt.
Ich werde meine Zeit und meinen Ruf nicht mit einer sentimentalen Dummheit verschwenden. Ich werde nicht unterschreiben. Jetzt gehen Sie. Ich habe Arbeit zu tun. Lena fühlte sich, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Sie trat zurück, unfähig zu sprechen, und verließ das Büro.
Die Tür schloss sich hinter ihr mit einem leisen, endgültigen Zischen. Sie wanderte ziellos durch die Gänge, besiegt. Es war vorbei. Sie hatte eine Hürde übersehen. Die Anmeldefrist endete morgen. Sie blieb vor dem Hauptschwarzen Brett stehen. Dort hing die offizielle Liste der Betreuer. Wagner, Dr.
Hess, Streicher, Professor Klein, Blechbläser und ganz unten mit einer fast unleserlichen veralteten Schriftart Herr Robert Müller. Theorie in Korpetition. Herr Müller Lena kannte ihn, jeder kannte ihn. Er war der andere Musiklehrer, derjenige, den niemand ernst nahm. Er unterrichtete die Pflichtkurse musikalische Früherziehung und Theorie für Nebenfachstudenten.
Er war ein Relikt aus einer anderen Zeit, alt, zerzaust, roch immer nach Pfeifentabak und alten Büchern. Man munkelte, er sei seit 40 Jahren hier. Er war eine Institution, die man duldete, aber nicht respektierte. Er war ihre letzte, ihre einzige, ihre lächerlichste Chance. Sein Büro oder besser gesagt sein Verschlag befand sich im Kellergeschoss, versteckt hinter dem Schlagzeugproberaum, wo der Lärm jeden klaren Gedanken unmöglich machte.
Die Tür war aus dunklem, rissigem Holz und stand einen Spalt offen. Büro Air. Müller stand auf einem vergilbten Messingschild. Lena klopfte zaghaft. Ein lautes, verärgertes Poltern war von drinnen zu hören. Dann ein griesgrämiges Ja. Sie schob die Tür auf. Der Raum war keine zehn Quadratmeter groß und platzte aus allen Näten.
Es war ein Chaos aus Schallplatten, die sich bis zur Decke stapelten, gelben Partituren, die wie Schneeverwehrungen auf dem Boden lagen und mindestens drei kaputten Metronomen. In der Mitte saß ein Mann mit einer wilden Mähne aus weißem Haar, der über eine Partitur gebeugt war. Er blickte durch eine dicke Brille auf, die auf seiner Nasenspitze saß.
Er sah aus wie eine vergessene, leicht verrückte Version von Beehofen. “Herr Müller”, erbinzelte sie an. “Was ist es? Wollen Sie eine Note anfechten? Ich gebe keine Einsen für bloßes Atmen. Das habe ich Ihnen schon gesagt. Nein, Herr Müller, ich heiße Lena Schmidt. Ich bin im Vokalprogramm.” “Schmid, Schmidt”, murmelte er. nie gehört. Ich weiß, ich.
Ich brauche eine Unterschrift für den Frühlingswettbewerb. Herr Müller stieß ein trockenes rasselndes Lachen aus. Der Frühlingswettbewerb. Sie meinen Wagners kleinen Zirkus, Ihr Eidelkeitsspektakel. Warum kommen Sie damit zu mir? Gehen Sie zu der Drachendame selbst. Sie hat abgelehnt”, sagte Lena leise. Das brachte ihn dazu, inne zu halten.
Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Zum ersten Mal sah er sie richtig an. Abgelehnt? Die Wagner lehnt niemanden ab, der ihr Ego streicheln kann und reiche Eltern hat. Was haben Sie getan? Ich habe Maximilian von Strauß korrigiert in ihrem Seminar. Müllers buschige Augenbrauen schossen in die Höhe.
Sie haben was? Und er hat mich herausgefordert vor der ganzen Klasse. Lena zögerte, dann zog sie das zerknitterte Notenblatt aus ihrer Tasche. Er sagte, ich soll das singen. Herr Müller nahm das Blatt. Er starrte darauf. Das Lachen verschwand augenblicklich aus seinem Gesicht. Es wurde ersetzt durch etwas Düsteres, fast wütendes.
Der Erlkönig, Strauße, dieser arrogante, verwöhnte Junge. Seine Stimme war ein Knurren. Er weiß nicht, womit er spielt. Das ist kein Lied. Das ist ein Grab für eine Stimme, wenn man nicht weiß, was man tut. Ich muss es tun, Herr Müller. Es geht nicht nur um die Herausforderung. Der Preis, das Stipendium. Das Stipendium ist bereits an Sophie vergeben, schnitt Müller ihr das Wort ab. Wagner ist die Chefjurorin.
Das ist eine Fars. Verschwenden Sie nicht meine Zeit. Er wollte ihr das Blatt zurückgeben. Bitte, sagte Lena. Ihre Stimme brach fast. Hören Sie mich nur eine Minute singen, nur eine. Müller seufzte tief. Er sah müde aus. Eine Müdigkeit, die Jahrzehnte alt war.
Ich habe seit 20 Jahren keinen Sänger mehr für einen Wettbewerb vorbereitet, Fräulein Schmidt. Ich werde auch jetzt nicht damit anfangen. Ich bin nur noch hier, um die Stühle warm zu halten, bis sie mich endlich in Rente schicken. Nur eine Skala, bettelte Lena. Wenn Sie mich danach wegschicken, gehe ich. Ach, meinetwegen brummte er, mehr um sie loszuwerden als aus Interesse.
Er schob einen Stapel Partituren von der Bank eines alten verstimmten Klaviers in der Ecke. Die Tasten waren vergilbt. Er schlug einen Akkord an, der schräg klang. Singen Sie eine einfache Aur Tonleiter auf A. Lena schloss die Augen. Sie atmete tief ein. Sie war nicht im Keller, sie war in der Kapelle, im Mondlicht. Sie sang. Müllers Hände erstarrten über den Tasten. Er hielt den Atem an.
Es war nicht die Perfektion, es war die Farbe, es war die Textur. Die Stimme war völlig untrainiert. Ja, sie war roh, aber sie war echt. Sie hatte eine Qualität, die er seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte. Sie klang nicht wie eine Studentin, sie klang wie Er schüttelte den Kopf, als wollte er einen Traum vertreiben.
Er spielte ein schnelles, komplexes Arpegio. Singen Sie das. Lena hörte hin und sang es zurück. Perfekt. Jede Note saß. Er drehte sich langsam auf dem Hocker um. Er starrte sie an, als hätte sie gerade ein zweites Paar Arme wachsen lassen. “Woher?”, flüsterte er. “Meine Großmutter, Oma Greta. Sie hat in der Kirche gesungen. Sie hat es mir beigebracht.
Greta wiederholte Müller. Der Name schien eine Seite in ihm anzuschlagen. Greta Schmidt. Lena nickte. Kannten sie sie? Müller stand langsam auf. Er ging zu einem alten Aktenschrank, der mit Rostflecken übersätt war. Er wühlte darin und zog ein vergilbtes, eingerahmtes Programm heraus.
Heidelberger Opernhaus 1985, die Zauberflöte. Er tippte auf einen Namen in der Besetzungsliste. Königin der Nacht, Greta Schmidt. Das war sie, flüsterte Lena. Ich war der Korpetitor, sagte Müller leise. Seine Stimme war rau. Ich war am Klavier, als sie für diese Rolle vorsang. Sie war ein Naturereignis, eine Stimme wie ein Diamant.
Aber sie hatte Angst, panische Angst vor der Bühne, vor dem Urteil der anderen. Sie hat die Premiere eine Woche vorher abgesagt, ist nie wieder aufgetreten. Er sah Lena mit einer neuen furchterregenden Intensität an. Sie haben ihre Stimme. Gott im Himmel, Sie haben ihre Stimme.
Aber haben Sie auch ihr Feuer oder haben Sie ihre Angst geerbt? Ich habe keine Angst, Herr Müller, sagte Lena, und ihre Stimme zitterte nicht mehr. Ich bin verzweifelt. Müller blickte von Lena auf das Erlkönigblatt in seiner Hand. Strauß will sie demütigen, Wagner will sie scheitern sehen, die Juroren werden sie zerreißen. Sie sind ein Lamm, das in einen Wolfskäfig geworfen wird. Dann muss ich lernen, ein Wolf zu sein, antwortete Lena.
Ein langsames, fast schmerzhaftes Lächeln breitete sich auf Müllers Gesicht aus. Es war, als würde ein altes, verrostetes Tor aufgehebelt. Er spürte etwas, das er für längst tot gehalten hatte. Hoffnung. Das war nicht Lenas Chance. Das war seine, die zweite Chance, die Greta nie gehabt hatte.
Er griff nach einem Stift, dessen Kappe er zerkaut hatte, und unterschrieb das Formular mit einer zittrigen, aber kraftvollen Handschrift Robert Müller. Die Vorentscheidungen sind nächste Woche, sagte er, plötzlich geschäftig. “Sie werden sie nicht mit dem Erlkönig vorsingen lassen. Das ist Selbstmord. Wir brauchen einen Köder, etwas Subtiles. Er durchwühlte einen Stapel auf dem Klavier. Ah, hier Schumann Mondnacht. Es ist leise. Es ist rein.
Es gibt keinen Ort, um sich zu verstecken. Sie werden ein Kind erwarten. Zeigen Sie ihnen eine Seele. Und der Erlkönig? Fragte Lena. Müllers Augen funkelten. Das, sagte er, das ist unsere Waffe. Das üben wir im Geheimen. Das ist nicht für die Juroren in der Vorrunde, das ist für den Krieg.
Die nächsten 10 Tage waren die Hölle. Lenas Leben wurde zu einem unerbittlichen Dreieck. 4 Uhr morgens in der Kapelle Stimme aufwärmen. 8 Uhr morgens in den Vorlesungen, die unsichtbare Studentin. 5 Uhr nachmittags in Müllers Keller, die Ausbildung. Uhr abends bis Mitternacht im Konservatorium. Die Putzfrau. Müllers Unterricht war brutal. “Amen!”, schrie er, während er ihr gegen den Rücken schlug.
“Nicht aus der Brust wie ein Vögelchen aus dem Zwerchfell. Stützen. Stell dir vor, du drückst eine Wand weg.” Er ließ sie die Mondnacht singen, immer und immer wieder. Nein, nicht singen, fühlen. Die Luft ist still. Der Himmel küsst die Erde. Du singst nicht über Sehnsucht. Du bist die Sehnsucht.
Und nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, kam der Erl König. Es war ein Disaster. Ich kann nicht. Die Stimme des Vaters ist zu tief. Unsinn. Es ist nicht tief. Es ist dunkel. Es ist Angst. Jetzt der Sohn. Er ist nicht hoch. Er ist spitz. Es ist Panik. Und der Erlkönig, flüsterte sie. Er schreit nicht, sagte Müller leise. Er flüstert.
Das Böse schreit nie, Kindchen. Es lockt. Ihre Stimme brach. Sie war chronisch übermüdet. Sie schrubte die Böden des Konservatoriums bis Mitternacht. Ihre Muskeln schmerzten und Müllers falsch wieder halte in ihren Ohren. Eines Nachts kam sie um 1 Uhr morgens nach Hause. Die Wohnung war dunkel, aber Hanna saß nicht in ihrem Sessel.
Ein schwaches Licht brannte im Schlafzimmer. Lenas Herz blieb stehen. Sie fand Hanna auf dem Boden neben dem Bett. Sie rang keuchend nach Luft. Ihr Gesicht war blassblau im Licht der Nachttischlampe. Der Inhalator lag in ihrer Hand, aber er half nicht mehr. Mama! Lena rief den Notarzt.
Die nächsten Stunden waren ein Albtraum aus Sirenen, Formularen und dem sterilen, grellen Licht der Notaufnahme. Ein junger Arzt fand sie im Wartezimmer. Sie war in sich zusammengesunsen. Fräulein Schmidt, ihre Mutter ist stabil, vorerst, aber das war ein sehr schwerer Anfall. Was was passiert jetzt? Der Arzt blickte auf sein Klemmbrett. Die Medikamente wirken nicht mehr, wie wir befürchtet hatten.
Sie braucht das experimentelle Verfahren, die Operation und zwar bald. Wie bald? Fragte Lena mit tauben Lippen. Wir können sie ein paar Tage hier behalten, um sie einzustellen, aber wenn wir die Operation nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen ansetzen, nun ja, der nächste Anfall könnte der letzte sein.
Lena starrte den Arzt an. Sie sah nicht ihn, sie sah den Kalender an der Wand des Wartezimmers. Zwei Wochen. Der Heidelberger Frühlingswettbewerb, die Endrunde, falls sie es überhaupt so weit schaffte, war in genau 10 Tagen. Die Luft im Backstage Bereich des großen Saals war dicker als der Rauch in einer alten Kneipe.
Sie war schwer von Haarspray, Nervosität und dem Staub von hundertjährigen Samtvorhängen. Lena saß auf einem wackligen Hocker in einer dunklen Ecke, die Hände zu Fäusten geballt. Sie trug das beste Kleid ihrer Mutter, ein einfaches dunkelblaues Samtkleid, das 20 Jahre alt war, aber sorgfältig gebügelt worden war.
Sie sah aus wie ein Schatten neben den anderen Teilnehmerinnen, die in Seide und maßgeschneiderten Anzügen rauschten. Ihr Telefon summte. Eine kurze Nachricht vom Krankenhaus. Mama ist wach. Sie drückt die Daumen. Ein Klos bildete sich in Lenas Hals. Es ging nicht um Applaus. Es ging nicht einmal um Berlin. Es ging um diese Nachricht. Es ging um das Recht ihrer Mutter.
noch viele weitere Nachrichten zu schicken. Fräulein Schmidt. Lena Schrag zusammen. Herr Müller stand vor ihr. Er trug einen alten leicht mottenzerfressenen Frack, der ihm viel zu groß war. Aber seine Augen funkelten mit einer Energie, die sie noch nie gesehen hatte. Er reichte ihr eine kleine Tasse mit dampfendem Tee, Ingwer und Honig für die Stimme.
“Ich glaube, ich muss mich übergeben”, flüsterte Lena. “Gut”, sagte Müller. “Nervosität ist Energie, es ist Benzin. Hab keine Angst davor. Hab Angst davor, nichts zu fühlen.” Er legte seine knöcherne Hand auf ihre Schulter. “Du bist Gretes Enkelin, aber heute Abend singst du nicht für sie. Du singst nicht für mich. Du singst für dich.
” Verstanden? Erzähl ihnen die Geschichte Mondach. Rein und klar. Lass sie die Sehnsucht spüren. Und wenn das nicht reicht? Fragte sie und dachte an die Operation. “Das muss es”, sagte er schlicht. Von der Bühne her war tosender Applaus zu hören. Und nun dröhnte die Stimme von Frau Wagner durch die Lautsprecher.
Unsere Vizepreisträgerin des letzten Jahres mit einer Arie der Elvira aus Ipuritani, Sophie von Arens. Sophie schwebte an ihnen vorbei. Ihr Kleid war ein Traum aus cremfarbener Seide. Sie warf Lena einen Blick zu, der sagte: “Sieh gut zu, wie man das macht.” Und Sophie war brillant. Daran gab es keinen Zweifel. Sie sang eine unglaublich schwere Arie von Bellini, eine, die für ihre mörderischen Koloraturen und stratosphären hohen Töne bekannt war.
Sophie traf jeden einzelnen Ton. Ihre Technik war wie eine Festung, markellos und uneinnehmbar. Es war eine Demonstration von Kraft und Präzision. Als sie den letzten schwebenden hohen Ton hielt, war das Publikum hingerissen. Der Applaus war gewaltig. Frau Wagner am Jurorentisch strahlte, als hätte sie selbst gesungen. Sophie rauschte von der Bühne, verschwitzt, aber triumphierend.
“Und nun”, sagte Frau Wagner, ihre Stimme war nun merklich kühler, “unsere letzte Teilnehmerin, betreut von Herr Müller Lena Schmidt. Sie singt Mondnacht von Robert Schumann. Das Publikum applaudierte höflich, aber verhalten. Eine Schumannballade nach diesem Feuerwerk von Bellini, das war ein Antiklimax. “Du bist dran, Kindchen”, murmelte Müller. “Atme!” Lena stand auf.
Ihre Beine fühlten sich an wie nasser Zement. Sie ging ins Licht. Die Scheinwerfer waren heiß und blind. Tausend unsichtbare Gesichter starrten sie an. In der dritten Reihe sah sie ihn, Maximilian, im Smoking, der gelangweilt sein Programm studierte. Er blickte nicht einmal auf. Der Pianist begann das sanfte rollende Preludium.
Es war der Klang von Stille und Erwartung. Lena atmete ein. Sie dachte an die Kapelle im Morgengrauen. Sie dachte an ihre Mutter. Sie öffnete den Mund. Es war als hätte der Himmel. Ihre Stimme war nicht laut. Sie war das genaue Gegenteil von Sophies Darbietung. Sie war intim, klar wie Glas und voller Schmerz. Sie war nicht technisch perfekt, sie war ehrlich, die Erde still geküsst. Der Saal wurde still.
Maximilian hob langsam den Kopf von seinem Programm. Sein spöttisches Lächeln gefror. Frau Wagner runzelte die Stirn. Das war nicht die unsichtbare Studentin, das war etwas anderes. Lena schloss die Augen, um sich auf die nächste heikle Phrase zu konzentrieren. Dass sie im Blütenschimmer, ein ohrenbetäubender Krach, ein Geräusch wie ein Autounfall ließ den gesamten Saal zusammenzucken.
Ein großer, schwerer Metallnotenständer, der in den Kulissen gestanden hatte, war auf den Holzboden gekracht. Lenas Stimme brach, sie schnappte nach Luft. Ein entsetztes, klangloses Würgen. Stille, dann ein Kichern aus der ersten Reihe. In den Kulissen stand Sophie, eine Hand in gespieltem Entsetzen vor dem Mund, doch ihre Augen, die Lena direkt anstarrten, funkelten vor bösartigem Triumph. Sie hatte es absichtlich getan. Das Publikum begann zu murmeln.
Der Pianist stockte, seine Hände schwebten über den Tasten. Lena stand da, ihr Gesicht brannte vor Demütigung. Es war vorbei. Sie hatte ihre Chance verloren. Frau Wagner am Jurorenttisch machte bereits eine wegwerfende Geste, als wollte sie sagen: “Nächste Bitte.” Tränen stiegen Lena in die Augen. Sie wollte von der Bühne rennen. Sie wollte sterben.
Sie drehte sich zur Kulisse um. Dort sah sie Herrn Müller. Er schüttelte den Kopf. Nicht aus Enttäuschung. Es war ein Befehl. Nein, lauf nicht weg. Und in diesem Moment durchbrach etwas in Lena jede Mauer aus Angst und Demütigung. Es war die Erinnerung an den blassblauen T ihrer Mutter im Krankenhausbett. Es war die Erinnerung an Sophies triumphierendes Grinsen.
Es war die Erinnerung an Maximilians grausames Lachen. Die Wut von der Müller gesprochen hatte. Sie war da, kalt und klar. Sie drehte sich nicht um, zu gehen. Sie ging nach vorne. Sie trat an den Rand der Bühne, weg vom Klavier, direkt ins grellzte Licht. Sie hob eine Hand. Der Pianist erstarrte. Das Murmeln im Saal verstummte. “Es tut mir leid”, sagte Lena. Ihre Stimme zitterte nicht mehr.
Sie war leise, aber sie schnitt durch die Stille wie ein Messer. “Ich kann dieses Lied nicht singen.” Ein kollektives Lindschnappen. Frau Wagner stand halb auf. “Fräulein Schmidt, wenn Sie die Bühne verlassen, sind Sie disqualifiziert.” “Ich verlasse die Bühne nicht”, sagte Lena.
Sie blickte über die Köpfe der Juroren hinweg, direkt in die dritte Reihe. direkt in Maximilians schockierte Augen. “Herron Strauß”, sagte sie. Maximilian zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Die ganze Aufmerksamkeit des Saals richtete sich nun auf ihn. “Vor einem Monat”, fuhr Lena fort, “Ihre Stimme halte nun ohne Mikrofon durch den Saal, “Haben Sie mir eine öffentliche Herausforderung gestellt? Sie haben mir ein Lied gegeben. Sie sagten: “Wenn ich es wage, es hier zu singen.
” Nun, sie erinnerten sich an die Bedingungen. Maximilian wurde leichenblass. Sein Vater neben ihm warf ihm einen eisigen Blick zu. “Sie dachten, es wäre ein Witz”, sagte Lena. “Sie dachten, ein Mädchen, das den Boden wischt, auf dem sie gehen, könnte dieses Lied niemals verstehen, geschweige denn singen.” Sie atmete tief ein.
Sie war nicht länger ein Opfer, sie war eine Anklägerin. Sie hatten recht. Es ist ein unmögliches Lied. Es ist der Erl König. Es geht um Angst, um Verzweiflung und um den Tod. Sie blickte zu dem entsetzten Pianisten. Ich brauche keine Begleitung. Fräulein Schmidt, rief Frau Wagner. Das ist absurd. Das ist nicht ihr eingereichtes Stück. Lassen Sie sie singen! Donnerte eine Stimme von ganz hinten.
Es war Herr Müller, der aufgestanden war. Sein Gesicht war eine Maske der Entschlossenheit. Lena schloss die Augen für eine Sekunde. Dann öffnete sie und sie begann. A Kapella. Wer reitet zu spät durch Nacht und Wind? Die Stimme war nicht Lenas. Es war der Erzähler. Tief, dunkel, voller Vorahnung. Der Saal hielt den Atem an.
Es war nicht laut, aber es war schwer. Es ist der Vater mit seinem Kind und dann der Wechsel. Ihre Stimme fiel, wurde rau, schwer vor Sorge und der Kälte der Nacht. Es war der Vater. Mein Sohn, was wirgst du so bang dein Gesicht? Der Sprung war schockierend. Ihre Stimme wurde hoch, dünn, eine Nadelspitze aus reiner kindlicher Panik.
Siehst Vater, du den Ehrkönig, nicht den Ehrenkönig mit Kron und Schweif. Sopie in den Kulissen war Kreidebleich. Das war unmöglich. Sie wechselte die Stimmfarben, die Register, die Emotionen, als würde sie einen Mantel wechseln. “Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.” Die beruhigende, aber machtlose Antwort des Vaters. Und dann Gänsehaut breitete sich im gesamten Publikum aus. Der L König.
Lenas Stimme wurde zu einem verführerischen, unheimlichen, tödlichen Flüstern. Sie sang nicht, sie lockte. Es war süß wie Honig und kalt wie das Grab. Du liebes Kind, komm, geh mit mir. Gar schöne Spiele spiele ich mit dir. Maximilian saß wie versteinert. Er hatte dieses Lied Dutzende Male gehört von den besten Sängern der Welt. Aber er hatte es noch nie so gehört.
Er hörte nicht einer Studentin zu, er hörte einem sterbenden Kind und einem Dämon zu. Lena war nicht mehr auf der Bühne. Sie war im Wald. Sie war der Sturm. Sie riss ihr ganzes Herz, ihre ganze Angst um ihre Mutter, ihre ganze Wut über die Demütigung heraus und goß sie in die vier Charaktere. Der Dialog wurde schneller, fieberhafter, der Vater verzweifelt, das Kind schreiend vor Todesangst.
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an. Erlkönig hat mir ein Leiz getan. Der letzte Einsatz des Vaters war kein Gesang mehr. Es war ein gequälter Schrei der Anstrengung. dem Vater Grausitz erreitet Geschwind und dann der Erzähler. Die letzte Zeile. Lena hielt inne. Die Stille im Saal war so absolut, dass man eine Note hätte fallen hören können.
Ihre Stimme war nun ein flaches, totes, emotionsloses Rezitativ, das Ende der Geschichte. In seinen Armen, das Kind war tot. Die letzten beiden Worte hingen in der Luft, endgültig, zerstört. Lena stand da, ihr Brustkorb hob und senkte sich schwer. Tränen strömten über ihr Gesicht. Aber es waren nicht ihre Tränen. Es waren die Tränen des Vaters. Sie hatte alles gegeben. Sie war leer.
Niemand klatschte. 10 Sekunden. 20 30. Die Stille war kein Schweigen. Es war Schock. Es war eine kollektive Lähmung. Frau Wagner war arschfahl. Sie starrte Lena an, als hätte sie einen Geist gesehen. Sophie war verschwunden. Maximilian starrte auf die leere Bühne, obwohl Lena direkt vor ihm stand. Er war nicht spöttisch, er war nicht wütend, er war zerbrochen.
Die Arroganz war von ihm abgefallen wie eine billige Maske. Er hatte ein Spiel gespielt und sie hatte mit ihrer Seele geantwortet. Dann von ganz hinten im Saal. Ein einzelnes lautes Klatschen. Es war Herr Müller. Er stand. Sein alter Frack war ihm egal und Tränen liefen ihm ungehindert über das Gesicht.
Er klatschte langsam, rhythmisch, dann stand ein Mann in der ersten Reihe auf. Es war Maximilians Vater. Er sah seinen Sohn nicht an, er sah Lena an und er begann zu klatschen. Und dann explodierte der Saal. Es war kein höflicher Applaus, es war ein Brüllen, es war ein Schrei. Die Leute sprangen auf die Füße, riefen: “Bravo, Pfiffen, weinten. Es war eine Katarsis.
Sie klatschten nicht für eine Studentin, sie klatschten für etwas echtes, das sie seit Jahren nicht mehr gehört hatten. Lena fiel auf die Knie, als die Welle des Geräusch sie traf. Sie hatte es geschafft. B eine Woche später. Das Krankenhauszimmer roch nach Antiseptika, Traubenzucker und Hoffnung. Hanna saß aufrecht im Bett. Ihre Wangen hatten zum ersten Mal seit Monaten Farbe. Sie aß einen Joghurt.
Die Operation war ein Erfolg gewesen. Die 20.000 1000 € des Hans Eisler Stipendiums waren auf ein Treuhandkonto für ihre Behandlung eingezahlt worden. Es klopfte leise an der offenen Tür. Lena drehte sich um. Maximilian von Strauß stand im Rahmen. Er trug keine Designerkleidung, nur Jeans und einen einfachen Pullover. Er sah aus wie ein Student. Er hielt unbeholfen einen Blumenstrauß in der Hand.
“Ich ist das ein schlechter Zeitpunkt?”, fragte er. Lena sah zu ihrer Mutter, die ihn neugierig anlächelte. Ich bin gleich zurück, Mama. Sie trat mit ihm auf den Gang. Wie geht es ihr? Fragte er leise. Besser? Viel besser. Die Ärzte sind zuversichtlich. Das ist gut. Es herrschte eine unbehagliche Stille. Hör zu, Lena, sagte er und sah auf seine Schuhe. Was ich in diesem Seminar getan habe, es war unverzeihlich.
Ich war arrogant, grausam und ein Idiot. Ich habe mich nicht über dich lustig gemacht. Ich hatte Angst. Angst vor mir? fragte Lena ungläubig. Angst vor Leuten wie dir, sagte er. Leuten, die wirklich etwas haben. Echtes Talent. Ich spiele nur die Noten. Du Du bist die Musik. Das, was du an diesem Abend getan hast.
Es war das Ehrfurchtgebietenste, was ich je gesehen habe. Er hielt ihr ein flaches, in braunes Papier gewickeltes Paket hin. Das ist Es ist keine Entschuldigung, nur ein ein Zeichen. Lena öffnete es. Es war kein Schmuck. Es war ein ledergebundener sehr alter Band mit Partituren. Handschriftliche Notizen säumten die Ränder. Das war meines Urgroßvaters, sagte Maximilian. Er war der einzige in unserer Familie, der die Musik wirklich geliebt hat.
Ich glaube, er hätte gewollt, dass du sie hast. Lena nahm das Buch. Danke, Maximilian. Er nickte. Und wegen der anderen Bedingung, dem Heiratsantrag. Ein kleines Lächeln spielte um Lenas Lippen. Ich lehne höflich ab. Er lachte. Zum ersten Mal ein echtes, leicht verlegenes Lachen. Ich habe es befürchtet. Du verdienst besseres. Er drehte sich um.
Viel Glück in Berlin, Lena. Sie haben Glück, dich zu haben. Zwei Tage später saß Lena im Zug. Heidelberg und seine Türme verschwanden hinter ihr, während der Zug nach Norden nach Berlin raste. In ihrem Rucksack lag das Stipendium schreiben. Neben ihr lag der alte Partiturband. Sie blickte aus dem Fenster und dachte über die letzten Wochen nach.
Sie war nach Heidelberg gekommen, weil sie unsichtbar sein wollte. Sie wollte nur lernen, ihre Schulden bezahlen und überleben. Aber die Welt hatte andere Pläne gehabt. Sie hatte ihr Steine in den Weg gelegt. Sie hatte sie als Putzfrau abgestempelt. Als niemand, als Witz. Sie sahen nur die abgetragenen Schuhe und das stille Gesicht.
Sie sahen nicht das Feuer, das Oma Greta in ihr entzündet hatte. Manchmal, so dachte Lena, ist das größte Talent nicht die Gabe, die man erhält, sondern der Mut, sie gegen alle Widerstände zu verteidigen. Talent fragt nicht nach Herkunft, Reichtum oder sozialem Status.
Es keimt an den unwahrscheinlichsten Orden, im Keller eines vergessenen Lehrers oder im Herzen einer erschöpften Putzfrau. Die Herausforderung von Maximilian war als Waffe gedacht, um sie zu zerstören. Aber eine Waffe ist nur ein Werkzeug. In den falschen Händen richtet sie Schaden an. In den richtigen Händen kann sie einen befreien. Die größte Lektion, die sie gelernt hatte, war nicht, wie man den Erlkönig singt.
Es war, daß ihre größte Schwäche, ihre Armut, ihre Unsichtbarkeit, ihre Verzweiflung zu ihrer stärksten Waffe werden konnte. Denn als sie auf dieser Bühne stand und nichts mehr zu verlieren hatte, war sie endlich frei, alles zu geben. Die Welt, so erkannte sie, während die Lichter Berlins am Horizont auftauchten, wird immer versuchen, dir zu sagen, wer du bist. Sie wird dir Etiketten aufkleben. Arm, schwach, unbedeutend.
Lena schloss die Augen und lächelte. Aber nur du selbst entscheidest, wann und wie deine Stimme gehört wird. M.

Related Posts

Our Privacy policy

https://newslitetoday.com - © 2025 News