Wolfgang Thierse: „Ich bin wütend und traurig über den Minderwertigkeitskomplex der Ostdeutschen“ – Die Wende im Kopf, die noch aussteht.

Wolfgang Thierse (SPD) - "Rechtsextremisten keinen Zipfel der Macht  überlassen"

Der 9. November ist ein Datum, das in Deutschland wie kaum ein anderes Symbol für Triumph und Transformation steht. Zwei Tage vor diesem Gedenktag, der den Fall der Berliner Mauer und den Beginn eines neuen Kapitels markiert, meldete sich eine der wichtigsten und authentischsten Stimmen der ostdeutschen Sozialdemokratie zu Wort: Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident und eine prägende Figur der Wiedervereinigung. In der MDR Talkshow Riverboat zog der 82-jährige Jurist eine emotionale und zugleich schmerzhaft ehrliche Bilanz. Sein Fazit ist ein Weckruf, der die deutsche Öffentlichkeit spaltet, denn Thierse wendet sich mit einer Mischung aus Wut und tiefer Traurigkeit direkt an seine ostdeutschen Landsleute.

Die zentrale Botschaft ist unmissverständlich: Die Wiedervereinigung ist eine Erfolgsgeschichte, doch das kollektive Selbstbild im Osten droht, diesen Erfolg psychologisch zunichtezumachen.

 

Die Erfolgsgeschichte als psychologische Blockade

 

Als Moderator Joachim Lambi den erfahrenen Politiker fragt, ob er die Wiedervereinigung immer noch als Erfolgsgeschichte betrachte, bejaht Thierse dies entschieden. Er ist der erste aus Ostdeutschland stammende Bundestagspräsident und kann somit auf einen beispiellosen persönlichen und politischen Aufstieg innerhalb des vereinten Deutschlands zurückblicken. Doch seine Zustimmung ist an eine bittere Einschränkung geknüpft, die das eigentliche Drama der letzten 35 Jahre beleuchtet.

„Ja, ohne dabei zu übersehen, wie viele Probleme es immer noch gibt, wie viel Ärger und welche Differenzen“, antwortet Thierse, um dann mit dem emotionalen Kern seiner Analyse fortzufahren: „Aber was mich ärgert und richtig wütend oder sagen wir mal traurig macht, ist, dass allzu viele Ostdeutschen nicht wahrnehmen können oder wollen, was sie in diesen 35 Jahren zustande gebracht haben.“

Diese Aussage ist keine bloße Kritik, sondern die frustrierte Beobachtung eines Menschen, der den Aufbau Ostdeutschlands von der ersten Stunde an begleitet hat. Er erkennt an, dass die dramatischen Veränderungen der Wendezeit und darüber hinaus die Menschen vor immense Herausforderungen gestellt haben, doch fügt er hinzu: „Die meisten haben es bestanden.“ Genau hier setzt sein Schmerz an. Wie kann es sein, dass eine Bevölkerung, die einen beispiellosen Systemwechsel gemeistert, neue Existenzen aufgebaut und ganze Regionen transformiert hat, diesen Erfolg nicht in ein positives Selbstbild überführen kann?

Thierse diagnostiziert eine Art kollektiven Minderwertigkeitskomplex, der wie ein „lästiger Rucksack“ die Menschen an ihrer eigenen Erfolgsgeschichte zweifeln lässt.

 

Der Rucksack der Minderwertigkeitskomplexe

 

Die psychologische Last, von der Thierse spricht, hat tiefgreifende historische Wurzeln. Nach dem Fall der Mauer sahen sich Ostdeutsche nicht nur mit der Freiheit und dem Konsum, sondern auch mit der Entwertung ihrer Biografien, dem Verlust vieler Arbeitsplätze und dem Gefühl konfrontiert, Bürger zweiter Klasse zu sein, die nun die Regeln des Westens übernehmen mussten. Dieser anfängliche Schock, das Gefühl der Benachteiligung, hat sich, so Thierse, über die Jahre verselbständigt und verfestigt.

„Diesen lästigen Rucksack an Minderwertigkeitskomplexen endlich ablegen“, fordert Thierse eindringlich. Es ist der Appell eines Zeitzeugen, der miterlebt hat, wie aus notwendiger Kritik an Missständen eine chronische Negativhaltung gewachsen ist, die den Blick für die Realität verstellt. Er sieht eine gefährliche Diskrepanz zwischen dem, was objektiv erreicht wurde, und dem, was subjektiv empfunden wird.

Dieser Rucksack ist nicht nur eine persönliche Bürde; er hat weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen. Er trägt zur politischen Polarisierung bei, nährt Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und fördert narrative des Abgehängtseins, die den Blick auf die eigene Leistungsfähigkeit verstellen. Thierse weiß, dass man die existierenden Probleme nicht übersehen darf – niedrigere Löhne und geringerer Wohlstand sind real. Doch er warnt davor, dass die „Figur vom abgehängten und benachteiligten Osten“ zu stark verselbständigt wurde und nun die eigene Wahrnehmung dominiert.

 

Leipzig als leuchtendes Gegenbeispiel

 

Um seine These zu untermauern, nutzt Thierse ein eindrucksvolles, visuelles Argument, das die Absurdität der Negativspirale entlarvt: die Stadt Leipzig.

„Die Leute gucken gar nicht mehr hin, was passiert ist. Kann man in Leipzig sagen, das ist eine abgehängte Stadt?“, fragt er rhetorisch. Seine eigene Erfahrung widerlegt diese Negativhaltung auf jeder Reise in die Messestadt. „Jedes Mal, wenn er in der Messestadt reise, denke er sich: Donnerwetter, wie schön ist Leipzig geworden!“

Leipzig ist in dieser Argumentation mehr als nur eine Stadt; es ist ein Sinnbild für die erfolgreiche Transformation Ostdeutschlands. Von der industriellen Deindustrialisierung nach der Wende zu einem florierenden Zentrum für Kultur, Bildung und Technologie – die Entwicklung Leipzigs ist ein Zeugnis menschlicher Schaffenskraft und des Erfolgs von Investitionen. Thierse fordert seine Landsleute auf, genau diese sichtbaren Erfolge wahrzunehmen und sie in ihr kollektives Bewusstsein zu integrieren. Es geht darum, die Differenz zwischen dem verinnerlichten negativen Urteil und der tatsächlichen, persönlichen Wahrnehmung zu überwinden.

Der Jurist und Politiker sieht in dieser Versöhnung mit der eigenen Leistung den Schlüssel zur Vollendung der inneren Einheit. Solange diese Kluft nicht geschlossen wird, „geht der Ärger immer weiter“, warnt Thierse. Er befürchtet, dass die Frustration und Wut, die eigentlich aus dem Gefühl der Nichtanerkennung resultieren, sich immer neue Ventile suchen werden.

 

Der Weg zur inneren Wiedervereinigung

 

Thierses emotionaler Ausbruch ist keine Abrechnung im herkömmlichen Sinne, sondern ein leidenschaftlicher Appell zur Selbstermächtigung. Es ist der Ruf eines Mannes, der sein Leben dem Aufbau eines gemeinsamen Deutschlands gewidmet hat, und der nun mit ansehen muss, wie ein Großteil der Bevölkerung im Osten Gefahr läuft, die Früchte seiner eigenen Arbeit nicht zu genießen, weil das Gefühl der Entwertung überwiegt.

Die Quintessenz seiner Mahnung ist, dass die größte Herausforderung nicht mehr primär in wirtschaftlichen oder infrastrukturellen Mängeln liegt, sondern in der mentalen Verfassung. Die Hardware der Wiedervereinigung, die Straßen, die sanierten Innenstädte und die modernen Fabriken, ist weitgehend fertiggestellt. Die Software, die kollektive Psyche, hinkt jedoch hinterher.

Dieses mentale Defizit ist ein ernstes Problem für die gesamtdeutsche Demokratie. Ein negatives Selbstbild, gespeist durch das ständige Gefühl der Benachteiligung, macht die Menschen anfällig für einfache Antworten und populistische Narrative, die die Schuld für persönliche oder regionale Missstände bei den anderen suchen – sei es der Westen, die Eliten oder die Politik. Thierse spricht damit eine tiefe Wahrheit aus: Nur wer seine eigene Geschichte als Erfolgsgeschichte anerkennen kann, kann mit Zuversicht in die Zukunft blicken und die noch bestehenden Herausforderungen mit der notwendigen Stärke angehen.

 

Ein Vermächtnis an Verantwortung

 

Wolfgang Thierse hat mit seiner schonungslosen Offenheit eine Debatte angestoßen, die weit über die üblichen Feiertagsreden hinausgeht. Seine Worte zwingen die Ostdeutschen, sich kritisch mit ihrem eigenen Mindset auseinanderzusetzen. Sie zwingen aber auch den Westen, die existierenden Unterschiede nicht zu bagatellisieren, sondern sie als die letzten, hartnäckigen Wunden eines jahrzehntelangen Traumas zu verstehen.

Sein Vermächtnis an diesem Jahrestag ist ein Aufruf zur Verantwortung: Die Verantwortung, das eigene Erreichte wertzuschätzen, den Rucksack der Komplexe endlich abzulegen und die Zukunft nicht durch eine sich selbst erfüllende Prophezeiung der Opferrolle zu sabotieren. Erst wenn die ostdeutsche Bevölkerung ihren eigenen Aufstieg als den Triumph feiert, der er ist, wird die Wiedervereinigung, die in der Politik und Wirtschaft längst vollzogen ist, auch im Kopf und im Herzen der Menschen vollständig ankommen. Bis dahin bleibt Wolfgang Thierse, der Mann des Ausgleichs, wütend und traurig über eine Einheit, deren größter Gegner nicht in Berlin oder Bonn sitzt, sondern in der eigenen, unversöhnten Wahrnehmung.

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