Mick Jagger ist eine Naturgewalt. Eine Ikone. Ein Phänomen. Wenn der Frontmann der Rolling Stones mit seinen mittlerweile über 80 Jahren die Bühne betritt, dann ist es mehr als nur ein Konzert: Es ist eine Demonstration des Trotzes gegen die Zeit. Er tanzt, wirbelt und fesselt das Publikum mit einer elektrisierenden Präsenz, die die eines jeden halb so alten Musikers in den Schatten stellt. Beeindruckende 19 Kilometer soll er bei jeder Show auf der Bühne zurücklegen – eine physische Leistung, die Ehrfurcht einflößt und seinen Status als unverwüstlicher Gott des Rock zementiert.
Doch hinter dem glänzenden und unbezwingbaren Fassade, die er seit über sechs Jahrzehnten der Welt präsentiert, verbirgt sich eine zutiefst menschliche, ja, fast melancholische Realität. Die Geschichte von Mick Jagger ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Hits und Rekorden, sondern auch ein bittersüßes Zeugnis des Älterwerdens, der Einsamkeit im Angesicht des größten Ruhms und der unvermeidlichen Kosten, die eine solch außergewöhnliche Karriere mit sich bringt.
Der unbezwingbare Tänzer und die Bürde der Fitness
Die anhaltende körperliche Verfassung Jaggers ist legendär und der Schlüssel zu seiner Ausdauer. Überraschenderweise verdankt er diese Disziplin nicht nur dem Wunsch, ein Rock-Gott zu sein, sondern der Lektion seines Vaters Basil. Sein Vater, ein Sportlehrer, legte großen Wert auf körperliche Fitness und vermittelte Mick die unschätzbare Bedeutung der Körperlichkeit, lange bevor er ein Rockstar wurde. Diese frühe Prägung hat Jagger bis in seine späten Lebensjahre bewahrt und ermöglicht es ihm, jene legendären Kilometer auf der Bühne zu absolvieren.
Doch die Gnade der Gesundheit schien vor einigen Jahren plötzlich vorbei zu sein. Mitten in einer Nordamerika-Tournee musste die Band mehrere Termine verschieben. Der Grund war erschreckend: Bei Jagger wurde eine Aortenklappenstenose diagnostiziert, eine ernste Herzerkrankung, die einen sofortigen Eingriff erforderte. Die minimal-invasive Herzklappenersatzoperation war ein Weckruf, der die Verletzlichkeit des vermeintlich unverwundbaren Frontmanns aufdeckte. Seine schnelle Genesung und Rückkehr auf die Bühne zeugte zwar von seinem unbändigen Willen, aber das Ereignis nagte am Mythos. Es war die erste Rissbildung in der Rüstung eines Mannes, der bisher immer unsterblich schien.
Die Narben der Sechziger: Altamont und der Schatten des Todes
Jaggers Leben war von Anfang an vom Chaos umgeben. Geboren während der Wirren des Zweiten Weltkriegs, schien das Drama ihn nie loszulassen. Die späten 1960er Jahre hätten die Stones fast zerstört. Die rechtlichen Schwierigkeiten wegen Drogenbesitzes, die in Jaggers kurzer Haft gipfelten, waren ein Warnschuss, aber die wahre Tragödie wartete auf dem Altamont Free Concert am Ende des Jahrzehnts.
Als Gegenstück zu Woodstock gedacht, wurde Altamont zu einem düsteren Wendepunkt, der das Ende der Ära von „Peace and Love“ markierte. Die Stones begingen den fatalen Fehler, die Hells Angels als Sicherheitspersonal einzusetzen. Die Situation eskalierte schnell zur Gewalt. Der schockierende Höhepunkt war der Mord an Meredith Hunter, einem jungen Fan, der direkt vor der Bühne erstochen wurde, während die Stones weiterspielten, aus Angst, ein Stoppen der Musik würde einen Aufruhr auslösen.
Jagger war von Angst verfolgt. Er befürchtete, das nächste Opfer zu sein, insbesondere inmitten der Gerüchte über eine geplante Rache der Hells Angels. Seine eigene Aussage in dieser Zeit – „Ich hatte höllische Angst“ – enthüllte die menschliche Panik hinter dem Rock-Helden. Diese Traumata, kurz nach dem tragischen Ertrinken des Gründungsmitglieds Brian Jones im selben Jahr, brannten tiefe Narben in die Seele der Band und ihres Frontmanns.
Die Schlacht der Brüder: Jahrzehnte voller Liebe und Hass
Wenn Jagger überlebt hat, dann liegt das auch an seiner turbulenten, aber unzerbrechlichen Partnerschaft mit Keith Richards. Ihre Beziehung, die Richards einmal als „Dritter Weltkrieg“ beschrieb, ist das Rückgrat der Rolling Stones. Die größten Spannungen entstanden, als Jagger in den 1980er Jahren seine Solokarriere fortsetzte und damit faktisch das Ende der Stones ankündigte.
Doch die Verbindung reicht tiefer als Freundschaft; sie ist eine brüderliche Bindung, geschmiedet durch gemeinsame Erfahrungen und gegenseitige Abhängigkeit. Richards selbst gestand in seiner Autobiografie, dass Jagger ihn in seinen dunkelsten Tagen – als er wegen Drogenbesitzes verhaftet wurde – wie ein Bruder unterstützte. Er anerkannte, dass Jagger die Band in seiner drogenbedingten Abwesenheit zusammenhielt.
Trotz dieser Loyalität war ihr Verhältnis von ständigen Eifersüchteleien und Machtkämpfen geprägt. Richards entwickelte sogar den cleveren Spottnamen „Brenda Jagger“, um den Leadsänger unbemerkt zu beleidigen. Doch am Ende siegte die Musik und das gemeinsame Erbe. Sie fanden wieder zusammen und setzten ihre Karriere fort. Heute gilt, was Richards über sie schrieb: „Mick und ich sind vielleicht keine Freunde, dafür gab es zu viel Abnutzung, aber wir sind die engsten Brüder, und das lässt sich nicht trennen“. Diese komplexe, aufreibende Dynamik ist der Preis für die längste Erfolgsgeschichte im Rock.
Der Casanova und die unstillbare Suche
Jaggers Liebesleben ist so legendär wie seine Musik. Biografen schätzten, dass Jagger mit über 4.000 Frauen zusammen war – eine Zahl, die selbst für einen Rockkönig schwindelerregend erscheint. Seine turbulente Liebesgeschichte spiegelt die Unruhe und die ständige Suche nach dem nächsten Kick wider, die sein ganzes Leben prägte.
Obwohl er nur zweimal verheiratet war – mit Bianca Pérez Mora Macias und Jerry Hall – waren diese Beziehungen von unzähligen Affären und Untreue geprägt. Seine Ehe mit Bianca endete, als sie die Scheidung wegen Ehebruchs einreichte. Die Beziehung zu Jerry Hall, die über zwei Jahrzehnte dauerte und vier Kinder hervorbrachte, war eine ständige Achterbahnfahrt der Leidenschaft und des Verrats. Halls ultimative Entscheidung zur Trennung kam, nachdem sie erfuhr, dass eine andere Frau von Jagger schwanger war.
Die Tragödie um L’Wren Scott, die über ein Jahrzehnt Jaggers Partnerin war und ihr Leben nahm, traf ihn zutiefst. Ihr plötzlicher Tod zeigte eine andere, verletzliche Seite des Superstars. Erst in seiner späten Romanze mit der Ballettänzerin Melanie Hamrick, mit der er sein achtes Kind bekam, scheint Jagger etwas wie Ruhe gefunden zu haben. Doch seine Vergangenheit zeigt, dass er die Nähe suchte, aber die dauerhafte Verpflichtung scheute, was oft zu Schmerz und Einsamkeit auf beiden Seiten führte.
Die Last der Irrelevanz
In einem seltenen Moment der Offenheit sprach Mick Jagger vor Kurzem über seine Ängste im Alter. Die größte Sorge des Mannes, der Stadien füllt und ein gigantisches Vermögen besitzt, war nicht der Tod oder die Krankheit, sondern die Irrelevanz. Er räumte ein, dass die Herausforderung des Alters darin bestehe, dass man sich „hilflos, nutzlos und irrelevant“ fühlen könne.
Diese ehrliche Beichte enthüllt die traurige Wahrheit hinter dem Mythos: Der größte Rockstar der Welt, der ständig seine Vitalität beweisen muss, wird von der universellen Angst geplagt, die jeden Menschen ereilt. Die ständige Notwendigkeit, aufzutreten, sich zu beweisen und dem jugendlichen Ideal des Rock and Roll zu entsprechen, ist ein Kampf, der niemals endet.
Jagger ist gezwungen, der Zeit davon zu tanzen, nicht nur um seine Fans zu unterhalten, sondern auch um sein Gefühl der eigenen Existenz zu rechtfertigen. Er ist der einsame Kaiser des Rock, der an die Grenzen der menschlichen Ausdauer geht, um dem Gefühl der Nutzlosigkeit zu entkommen.
Wie Roger Daltrey von The Who einst sagte: „Du wirst Mick Jagger niemals übertreffen. Er ist der beste Frontmann, den es je gegeben hat. Es gibt überhaupt keine Konkurrenz.“ Sein Vermächtnis ist unbestreitbar, aber seine Geschichte ist eine warnende Erzählung über den hohen Preis des Ruhms, die schwere Last der Legende und die bittere Einsamkeit, die selbst den König des Rock am Ende heimsucht. Es ist die tragische Schönheit seiner Geschichte.