Debatte um Merz-Äußerungen: „Die größte Gefahr für Frauen ist das eigene Zuhause“

Junge Migranten am 25.Dezember 2017 auf einer Treppe vor dem Hauptbahnhof in Köln

Die Göttinger Ethnologin Sabine Hess kritisiert im Interview die „Stadtbild“-Äußerungen von Merz als ahistorisch und selektiv. Die Ursache der Probleme sieht sie in Defiziten der Stadtplanung und der Sozialpolitik.

Seit etlichen Tagen wird erregt über die Äußerung von Bundeskanzler Friedrich Merz debattiert, wonach Migration zu einem „Problem im Stadtbild“ geführt habe. Wie blicken Sie auf die Diskussion?

Unser Stadtbild ist ohne Migration nicht zu denken. Die Aussage von Herrn Merz knüpft an einen Problemdiskurs an, den er und die CDU schon seit Monaten bespielen und der überhaupt nicht förderlich ist für eine Gesellschaft, die seit Jahrzehnten eine Einwanderungsgesellschaft ist. Migration hat nicht erst seit 2015 stattgefunden. Deutschland ist seit 1945 und auch schon davor kontinuierlich durch unterschiedliche Migrationsprozesse gekennzeichnet. Die Aussage von Herrn Merz ist ahistorisch und selektiv.

Was meinen Sie mit „selektiv“?

Wenn eine Bevölkerung heterogen ist – sozial, kulturell und hinsichtlich der Alterszusammensetzung – und zugleich von verschiedenen Sozialpolitiken, von Verarmung und Ungleichheiten geprägt ist, treten im öffentlichen Raum Phänomene auf, die als störend wahrgenommen werden. Obdachlosigkeit spielt eine Rolle. Aber auch junge Menschen, die aufgrund von Stadtplanung nicht genügend Freiraum zugesprochen bekommen und sich anderswo den Raum nehmen. Wenn dann ­Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen aufeinanderstoßen, kommt es zu Konflikten. Das sind grundlegende Probleme, die in erster Linie durch Stadtplanung verursacht werden und nicht durch die Menschen selbst. Hinzu kommt: Auch im reichen Deutschland haben Verarmungsprozesse eingesetzt. Diese Verarmungsprozesse führen in den Städten zu Problemen, die wir sonst eher in der Peripherie Europas wahrgenommen haben. Das alles ist ein Schrei nach einer funktionierenden Sozialpolitik.

Unterstützer von Merz sagen, er spreche mit der Stadtbild-Aussage ein reales Problem an, das viele Menschen in ihrem Alltag wahrnähmen. Diese Wahrnehmung beziehe sich nicht auf Migranten allgemein, sondern auf kriminelle Migranten. Würden Sie da nicht differenzieren?

Ich arbeite gerade in einem EU-Forschungsprojekt über europäische Abschiebepolitiken. Und wir sehen ganz deutlich, wie zunehmend das Argument des kriminellen Migranten herangezogen wird, um Abschiebungen zu begründen. Die Messerangriffe und andere Fälle in der Vergangenheit sind schrecklich und absolut zu verurteilen. Wir wissen aber auch, dass die Kriminalitätsstatistik nicht zeigt, dass Migranten per se krimineller sind als andere. Zudem wissen wir aus der Kriminologie und auch aus der Sozialforschung, dass es einen Konnex gibt zwischen Kriminalisierung und Migration, weil gewisse Straftatbestände nur greifen, wenn man Mi­grant ist. Verschiedene Rechte und Auflagen kann ich nur verletzen, wenn ich Migrant bin, wie die Residenzpflicht und verschiedene Meldepflichten. Es gibt außerdem Studien dazu, die belegen, dass Gerichte gerade bei Migranten dazu neigen, höhere Strafen zu erlassen.

Merz hat Frauen und „Töchter“ als Begründung für seine Stadtbild-Aussage ins Spiel gebracht. Gibt es wissenschaftliche Studien, die darlegen, wie Migration das Sicherheitsgefühl von Frauen verändert hat?

Solche Studien kenne ich nicht. Aber das ist eine ganz alte Strategie, Frauen und Geschlechterverhältnisse als Argument heranzuziehen, um migrantische Bevölkerungsgruppen zu stigmatisieren. Diese Strategie reicht tief in die Geschichte der deutschen Antimi­grationspolitik zurück. Wir müssen nicht erst zurückgehen zur Kölner Silvesternacht 2015. Die größte Gefahr für Frauen, das belegen Studien, ist das eigene Zuhause. Etwa alle vier Minuten wird eine Frau Opfer von Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner. Und diese Gewalt durchzieht alle Schichten, unabhängig von der Hautfarbe. Deshalb verstellt diese Diskursformation, wo die realen Gefahrenräume für Frauen eigentlich sind.

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